Krieg im Fernsehen

■ Unter diesem damals, wie ich fand, unpassenden Titel veröffentlichte die taz vor vier Jahren einen Artikel von mir über die zweiteilige BBC-Dokumentation „Simons Krieg“ und „Simons Frieden“ (taz vom 24.7.85). Gerade kam die dritte Folge über den Falkland-Soldaten Simon Weston heraus: „Simons Triumph“. Das erinnerte mich wieder an den Titel und ich schrieb aus der Wiederkehr des Anlasses heraus jetzt den passenden Text zu der damaligen Überschrift

Uta Ruge

Kriege töten, Kriege verstümmeln. Der größte Triumph der Kriegsherren sind die, die, verstümmelt und gezeichnet, lächeln und sagen, nein, ich spüre keine Bitterkeit, deren Mütter und Freundinnen sagen, aber nein, warum sollte ich bitter sein, ich bin stolz, der Krieg war notwendig. Das Wichtigste, sagen sie dann im Chor, ist, daß wir gewonnen haben.

Simons Triumph.

So heißt sein Buch und die letzte Folge einer Fernseh -Dokumentation über ihn. Der Waliser, mobilisiert für den Einsatz im Falkland-Krieg, dessen Haut zu 46 Prozent verbrannt war, dessen Hände zu steifen, zangenartigen Greifwerkzeugen geworden sind und dessen Gesicht die aus Hautfetzen geschneiderte Maske eines Menschen ist - Simon Weston also ist wieder da. Mit einem Buch, das er über sein Leben geschrieben hat, mit seinem Bild auf der BBC -Fernsehzeitung, als Gast einer beliebten Talkshow.

Dort sitzt seine Mutter neben ihm, im gepunkteten Kleid, stolz auf ihren Sohn und, wie gesagt, ohne Bitterkeit.

Der Sohn sagt, seine größte seelische Wunde aus diesem Krieg ist, daß er seiner Mutter oft wehgetan habe, er sagt nicht, womit, und keiner fragt nach. Die Mutter sagt schnell und mit fröhlicher Stimme, ich hab das alles vergessen, daran erinnere ich mich nicht mehr. Der Talkmaster fragt, was natürlich jeden beschäftigt: Und wie ist es mit den Frauen? Ach, da lacht er, denkt nach und fängt mehrere Sätze an. Dann kommt herausgestottert: Es gibt da jemand besonderes in seinem Leben. Oh, das hört man gerne, sagt der Talkmaster, und dann weiter im Galopp: Also, den Flugschein hat er gemacht, und Auto fährt er natürlich auch wieder ich liebe mein Auto sehr, sagt er zärtlich -, und dann hat er auch noch einen Verein gegründet, Hilfe für behinderte Jugendliche in Liverpool, dafür braucht er Geld.

Na, ich bin sicher, man wird kräftig spenden, sagt der Talkmaster, wir sind alle so stolz auf dich.

Der nächste Gast ist eine Gospel-Gruppe, die gerade irgendwo einen Preis gewonnen hat in einem Amateurwettbewerb.

Und die sind auch alle sehr stolz auf sich und auf Simon natürlich und daß sie jetzt alle im Fernsehen sind.

Am Abend vorher hatte ich noch ein Stückchen Film mitgekriegt, da ging ein großer blonder Mann in sommerlicher Kleidung und mit schwarzer Sonnenbrille durch eine Straße, in der alle kleiner sind als er: ein Amerikaner in Ho-Chi -Minh-Stadt. Aus dem Off hört man seine Stimme. Er sagt, diese Rückkehr nach Vietnam mit einer Gruppe von Kriegsveteranen sei eine große Erlösung für ihn gewesen. Schnitt. Blick in ein amerikanisches Zimmer, in dem sie sitzen, die Veteranen, und über den Krieg sprechen, über sich in diesem Krieg. Man weiß das Leben jetzt mehr zu schätzen, sagt einer. Das sagt er, nachdem er längst ausgeführt hat, wie das für ihn war, in Vietnam. Jede Sekunde, die man nicht im Einsatz war, lebte man aus vollen Zügen, Frauen und so weiter... Lachen und Klatschen und Pfeifen der anderen nach seinem Auftritt.

Ja, so ist das, der Krieg lehrt leben. Sie grinsen sich breit und freundschaftlich an. Schnitt - zurück nach Vietnam. Eine weite Ebene, über der hat man mal Napalm abgeworfen. Kleine Männer auf Fahrrädern und in lappigen Hosen und ärmellosen Hemden fahren durch das Bild; im Vordergrund steht einer neben seinem Fahrrad und spricht in die Kamera. Er zeigt auf einen, der neben ihm steht und sagt: Ich war auch ein großer Kriegsheld, ich habe viele Vietnamesen getötet. Starr lächeln sie sich an und schütteln sich die Hand. Ja, so spielt das Leben und der Tod. Wir haben überlebt, soll diese Geste sagen, wir tragen uns nichts nach, jeder hat sein Teil geleistet - jeder für sein Land.

Das sagte auch Simon in der Talkshow, und daß er gerne den kennenlernen möchte, der die Bombe auf sein Schiff geworfen hat. Nein, das würde mir nichts ausmachen, sagt er seiner Mutter ins Gesicht, die ihn überrascht von der Seite ansieht, im Gegenteil. Jeder hat seine Pflicht getan - und so weiter.

Und das Merkwürdigste ist, ich bin gerührt. Auch empört, aber aus irgendeinem Grund traue ich mich nicht, etwas so Unpassendes wie Tote zu erwähnen. Ich denke sie, oder vielmehr: ich habe die Fernsehbilder von ihnen noch vor Augen oder die Bilder, auf denen kaum etwas erkennbar war, nur Rauch und Staubwolken und das aus Maschinengewehren aufblitzende Feuer und der Rückstoß im Körper der Schießenden, verbrannte Panzer, verbogener Stahl - von Häusern und Fahrzeugen, Massen von Materie, die nicht mehr aussieht, wie man sie kennt, auf die eine Gewalt eingewirkt hat, von der wir bei diesem Anblick wissen, sie hat weiches Menschenfleisch zerrissen, verbrannt, verstümmelt. Manchmal sehen wir welche mit Toten in den Armen, rennend und schreiend oder auch ganz still, die nur dasitzen und auf den schlaffen Körper in ihrem Schoß oder neben sich heruntersehen, dann vielleicht aufblicken in die Kamera, mit leeren Augen. Hospitäler, Gräber, Ruinen, verkohlte Erde Kriegsreportagen. (Daß Mehrere irgendwo und gewiß weit entfernt zusammen die Gläser erheben und sich zutrinken auf den Sieg, aufs Geschäft, dies dazugehörige Bild kommt nie bis zu uns in die Stuben.)

Nun aber, wenn wir die Gezeichneten sehen, die, so sagt man wohl, tapfer ihr Leben nach dem Krieg in die Hand genommen haben, ihren Müttern oder Ehefrauen oder Schwestern danken und dem Talkmaster schöne Antworten geben, dem früheren Gegner zulächeln, wenn vielleicht auch etwas zögernd, - oder auch mal in Amerika bei therapeutischen Gruppensitzungen weinen dürfen, wobei die anderen dem Weinenden unablässig wohlwollend und kräftig auf die Schultern schlagen -, dann scheinen die alten Bilder von Zerstörung und Tod zu verblassen. Dann dürfen wir, so scheint es, nicht daran erinnern, haben gerade wir, die wir nur die Bilder, nicht aber den Geruch und nicht wirklich die Geräusche kennen, kein Recht dazu. Dann sollen wir uns wünschen, auch wir hätten so kämpfen und überleben können, die Angst gemeistert, die Schmerzen ertragen und danach das Leben erst Recht aus vollen Zügen genossen. In dieser Hinsicht, scheint es, gibt es gar nichts besseres als einen tüchtigen Krieg.

Und die anderen, die, wie man so sagt, nicht damit fertig geworden sind? Die sich bis heute nicht erholt haben von Anblicken, Gerüchen, dem Zittern der Erde, des Körpers neben sich und des eigenen? Die vielleicht später niemanden mehr wiedererkannt haben, auch sich selbst nicht, oder die in psychiatrischen Krankenhäusern vor sich hinlachen, oder auch mal einen Mord begehen oder zwei, und wer erwischt wird, muß den Rest seines Lebens Zellenwände anstarren?

Aber ja, auch über sie gibt es Filme, aber das ist eine andere Abteilung, die sowas macht. Die produzieren die Sachen mit der depressiven Einfärbung und der menschlichen Tragödie. Kamerafahrten über Gefängnis- und Klinikflure und so. In Talkshows kann man solche Leute ja schlecht einladen. Logisch.

Und die Toten gibt es auch. Zwanzig oder dreißig Jahre später - manchmal auch schon früher - macht man Filme über sie, in denen leben sie noch. In Landschaften, die von Filmproduzenten umgebaut sind zu Schlachtfeldern und Gefangenenlagern. Dann sind sie Helden. Heile, gesunde, hübsche Schauspieler stellen Bilder nach, die man offenbar ebenso dringend braucht wie die erfolgreich Überlebenden.

Wieder sah ich nur das Ende. Etwa zehn Minuten vor den Spätnachrichten hatte ich eingeschaltet. Tatsächlich hieß der Film Heroes, Helden. Es ging um irgendeine militärische Aktion von Australiern gegen ein japanisches Kriegsziel im Zweiten Weltkrieg. Zwei, drei ältere Männer, der Rest knapp zwanzig, alle zusammen auf einem kleinen Schiff in tropischen Breiten, schwitzend, angespannt, halbnackt. Der Feind ist nahe und zwar in Gestalt eines großen japanischen Kriegsschiffes. Die Frage ist offenbar, ob sie auf ihrem Fischfang- oder Handelskutter von den Japanern als getarnte Militärmannschaft erkannt werden oder nicht.

Da ich den Aufbau der Spannung nicht mitangesehen haben, mir also 50 oder 60 Filmminuten fehlen, wirken die Gesten und Mienen höchster Anspannung auf mich als das, was sie sind: ein Spiel. Das Spiel funktioniert so, daß die Jungen damit beschäftigt sind, sich zusammenzureißen; höchstens in den Augen oder mit einer heftigen, aufgeschreckten Kopfbewegung darf mal einer zeigen, daß er Angst hat und wie sehr er es versucht, die in den Griff zu kriegen; ein anderer legt ihm dann vielleicht seine Hand auf den Oberarm, sie sind, wie gesagt, halbnackt und das gibt, wären da nicht die Augen, fast eine zärtliche Geste ab, aber die Augen blicken mit aller Macht und herrisch dem ins Gesicht, der die Kontrolle zu verlieren droht. Schnitt auf einen der älteren Männer, die durch ihre Mützen zu Kommandierenden gemacht sind. Die haben sich besser in der Hand. Manchmal schaut einer von ihnen mit Besorgnis auf die eng auseinandergerückten Jungen - man versteckt sich unter Deck, deshalb ist es so eng -, und wenn einer von denen gerade hochsieht, blickt er in das ernste, feste Gesicht des Mannes, in dem nichts zittert und zagt und auch der herrische Blick nicht nötig ist, der die unterdrückte Hysterie der Jungen am deutlichsten zeichnet. Manchmal gibt es eine kleine Handlung, jemand steht auf und stellt den vom Wellengang umgeworfenen Granatwerfer wieder auf. Schnitt auf die Gesichter der anderen, die jetzt alle die Luft anhalten müssen, und auf das ältere, feste Gesicht, das mit unbewegten Augen den Jüngeren festhält und ermutigt, gleichzeitig beruhigt und leitet.

Schließlich entfernt sich das japanische Schiff, man atmet auf, aber nur sehr zögernd, kann es nicht glauben, einer, der es schon glaubt und anfangen will, herumzuspringen, wird von den anderen mit wilden Augen in die Starrheit zurückgetrieben, dann sitzt auch er wieder wie angenagelt, bis einer der Kommandanten, an dessen Lippen sie alle hängen, schließlich sagt, okay, da brechen sie in ein Jubeln aus, aber nur die allerjüngsten und ängstlichsten dürfen das, die anderen müssen solche Gesten machen wie: tief ausatmen, Schultern fallenlassen, mit einer Hand das Gesicht bedecken, über die Augen wischen, aufstehen und ein paar steife Schritte machen, Granaten und Gewehre wieder sichern.

Dann die Totale auf das Schiff von oben, wie es da so harmlos und zivil aussehend durch ruhige Wellen pflügt dann dürfen auch wir ausatmen.

Der Film endet damit, daß das Schiff wieder im Heimathafen landet und die Soldaten sich am Kai gegenseitig fotografieren. Über die mit aller Anstrengung lachenden jungen Männergesichter, ihre heilen und bewegten Körper läuft der Abspann des Films. Die erste Notiz besagt, daß die gleiche Mannschaft bei einer zweiten Sabotagemission umkam. „Nobody survived“, keiner überlebte, und so haben auch wir jetzt, wie die Angehörigen der Soldaten, ein Erinnerungsfoto, nehmen die lachenden Gesichter der Schauspieler dafür und für die Trauer einer Mutter, Freundin, Schwester.

Und sind ganz merkwürdig hochgestimmt und weich und zärtlich - (jaja, so sind sie, wie kleine Kinder! d. Äzzerin) und haben unversehens auch die Härte geschluckt, den Stolz uns einverleibt, die Selbstüberwindung, zusammen mit der Rührung über die Angst der Krieger, über das Lachen der später Gestorbenen.

Aber viel Zeit bleibt dafür nicht: Meine Damen und Herren, wir bringen Ihnen die Nachrichten. Nachrichtensätze, Schnitt, Bebilderung, Stimme des Reporters aus dem Off. Große Autos fahren schwungvoll Auffahrten zu Eingangstüren heran, eilig steigen Männer aus mit Aktentaschen in den Händen, wenden uns manchmal das Gesicht zu und sagen etwas, dann sieht man sie von hinten, wie sie in einer Tür verschwinden, Kameraschwenk auf Fenster, umgebende Park oder Straßenlandschaft etc. Das wiederholt sich noch einige Male. Dann kommt zur Auflockerung entweder etwas in geschlossenen Räumen - Reden aus Kongreßzentren, Menschen sitzend und stehend, in Fluren, Hörsälen, Behandlungszimmern, auf Bahnhöfen - oder Zerstörtes, durch Bombenanschläge und Kriegshandlungen. Schlachtfelder, Schauplätze.

Eines der seit mehr als zehn Jahren immer wieder auf den Bildschirmen auftauchenden Schlachtfelder ist Beirut. Da ist offenbar immer etwas los: Bombenanschläge, Heckenschützen, Artilleriebeschuß, Flüchtlinge, durch ruinenbestandene Straßen jagende Ambulanzen.

Bewegte und dennoch wie festgefrorene Bilder, Bilder ohne Gedächtnis, Sequenzen, die weder Anfang noch Ende haben. Man könnte sie von der Mitte aus ablaufen lassen und den Anfang hinten drankleben, es würde keinen Unterschied machen. Die einzelnen Einstellungen scheinen ohnehin für nichts besonderes mehr zu stehen: ununterscheidbar ist selbst das Wichtigste geworden - Freund und Feind, Sieg und Niederlage.

Oder worum geht es sonst?

Etwas weiter entfernt vom Schauplatz, westlich und östlich, scheint Bedeutung wieder erkennbar, die Sätze und Wörter, denen fraktionszuweisende Adjektive - oder adverbiale Bestimmungen wie „die von Israel/Syrien unterstützte Miliz“

-Sinn zuwachsen lassen, werden wieder sicher und laut ausgesprochen. Mit besonders festem Schritt bewegt sich die Nachrichtensprache dann erst recht über das diplomatische Parkett, dort, wo wieder große schwarze Autos ankommen, aus denen Männer mit Aktentaschen steigen, die uns kurz das Gesicht zuwenden, dann hinter schweren Türen verschwinden, die letzten Sätze werden über heile, saubere Park- oder Straßenlandschaften gesprochen.

Je näher wir jedoch dem Zentrum der Schlacht - einer der Schlachten - kommen, desto unklarer sind wieder die Worte, verwischter die Grenzen, verwackelter die Bilder.

Hier fehtl uns nicht nur die zwar banale aber immerhin verständliche Spannung um Sieg und Niederlage - etwas, was uns im Falle Afghanistans jetzt dankenswerterweise wieder geboten wird - sondern auch jegliche Bedeutung. Keiner scheint der Frage nachzugehen, wie es möglich ist, daß in einer Stadt, die seit mehr als zehn Jahren von Verwüstung und Tod beherrscht wird, dennoch immer wieder Loyalitäten entstehen, das heißt immer wieder Sinn produziert wird, um dessentwillen immer wieder neu zu den Waffen gegriffen wird. Oder sollte selbst dort niemand mehr an einen Sinn des Kampfes glauben?

Reicht es womöglich aus, daß ein frischer Munitions- und Waffennachschub die Stadt erreicht, der eigenen Gruppe oder Truppe - zugeschmuggelt, mit Drogengeld bezahlt oder erbeutet - in die Hände fällt, damit das Schießen weitergeht? Hat sich etwa an diesem, vielleicht ganz unwichtigen, wenn auch nicht zufälligen Punkt der Erde, eine neue Realität etabliert - wenn sie denn neu ist -, in der es genügt, daß das Geschäft mit den Waffen läuft, sozusagen als der beinahe oder doch kaum noch verschleierbare offizielle Sinn? Und in der es für den Privatsinn kleinen Gruppen von jungen Männern - unter Anführung jener älteren mit den Kommandomützen - genügt, Waffen zu haben, um sie auch zu gebrauchen, etwa so, wie es der Vietnamveteran ausdrückte, um „aus vollen Zügen leben zu können“?

Der Krieg lehrt leben, haben sie gesagt, und auch, daß sie nur jemandem in die Augen zu schauen bräuchten, um zu wissen, ob er schon einmal getötet hat. Sie sagten das ein bißchen stolz und ein bißchen grimmig, aber am unheimlichsten war, daß sie es mit einem Wissen im Gesicht sagten, das einen zutiefst sexuellen Charakter nicht zu verbergen suchte.

Simon Weston - das ist das andere, bekannte und vertraute Sinnmodell. Er wird uns - und sich selbst - vorgeführt als Beispiel dafür, wie man neben die Akzeptanz des offiziellen Sinns, hier dem militärischen Sieg im Konflikt um die britische Dominanz der Falklandinseln, auch noch seinen privaten Sinn setzen kann.

Religiös sei er eigentlich nicht, meint der Mann mit der am Gesicht festgewachsenen Maske aus Haut. Aber er glaube trotzdem, daß seine Verletzung eine Art Grund gehabt habe. Deshalb jedenfalls helfe er jetzt anderen Menschen, mit ihren Behinderungen und Schwächen fertig zu werden.

Deshalb?

Felsen brauchen Erdbeben, um erschüttert zu werden. Brauchen manche Männer Kriege? Ich erinnere mich noch gut an die Bilder von Simon, wie er halbverbrannt von seiner Trage in ein Bad gelegt werden soll, wie er, als man ihn anhebt, unfähig zu schreien, nur ohnmächtig und mit ganz hoher Stimme - wie ohne Lippen und Zunge - ruft: nein, nein, laßt mich, nein, laßt mich. Und daß er, als es endlich vorbei ist, erst auf einer anderen Trage liegt und noch einmal angehoben werden muß. Und wie dann, Wochen später, nach der zehnten oder elften Operation, weißgekleidete Männer über ihm stehen, er liegt halbnackt auf dem Untersuchungstisch, und wie ihre Augen, Hände, Pinzetten mitleidlos herabstechen auf das vor sie gebreitete Fleisch, das lange noch nicht perfekt gelungene Resultat. „Zeig mal her“ - einer nimmt seine Hand und drückt sie oder dreht sie, jedenfalls windet sich der ganze Mensch, der an dieser Hand hängt, vor Schmerzen, und man möchte ihm schnell ein Schneckenhaus hinstellen, in das er sich verkriechen könnte vor denen. Eine harte Schale, daß ihn nichts und niemand anrühren kann. Eine harte Schale - die er sonst wohl auch so hatte, mit seinem zum Kämpfen und Töten trainierten Körper, mit Händen, die ein Zittern unterdrücken und Augen, die andere mit herrischem Blick zur Selbstkontrolle bringen konnten. Diese Schale ist zersprengt durch den Schmerz. Jetzt ist er ein anderer geworden.

Simon muß nicht mehr siegen, weil er schon gesiegt hat. Er braucht keinen Krieg mehr, für ihn reicht jetzt der Sinn des Krieges - und des Überlebens. Da trifft es sich gut, daß er so erfolgreich überlebt hat. Und wie hat er das gemacht? Einmal in „Simons Triumph“ sagt er ganz nebenbei, er habe im Film gesehen, was für ein ekeliger, ruppiger Bursche er geworden sei. Das meint er über die Zeit, als er unglücklich und depressiv alles und jeden nur anranzte, soff, und sein ganzer Körper nur als ein einziger Hilfeschrei neben den anderen in der Stammkneipe stand, verbrannt, vernarbt, schmerzend und häßlich.

Jetzt sehen wir ihn nicht mehr so. Die Kamera ist überhaupt auf Distanz gegangen. Kein gieriger Blick mehr auf die zerfledderte Haut, auf verzweifelte Augen, verkrümmte Glieder, den haarlos gebliebenen Hinterkopf.

Jetzt sehen wir ihn fast nur noch im Anzug auftreten, überhaupt: auftreten, öffentlich sein.

Simon Weston spielt Simon Weston. Und sein Leben, zusammengeschnürrt und konzentriert als Film, hat ihn selbst beeindruckt, auch erschreckt, und am Ende geläutert. Dabei hat ihn das, was das Disparate und Verrückte, das Unverständliche und Zerrissene des Alltags nicht bieten kann, weder im Krieg noch im Frieden, erwischt: der Sinn. Sein Leben - zusammenhängend, bewegend und bewegt wie ein Film, glatt wie eine wieder heile Haut.

Als Einzelner und buchstäblich Herausgesprengter aus der soldatischen Menge - aus der Gruppe derer, die die Luft anhalten und im erregendsten Moment den Abzug betätigen können - wäre er bei einem nächsten Mal nur ein ziviler Toter, keiner, über den man noch einen Heldenfilm machen könnte.

Statt dessen läßt uns die BBC vielleicht auch daran noch teilnehmen: Simons Hochzeit, Kinder, Enkel, denn das ist, was er sich jetzt wünscht. Kriege sind nur Auftakt für den Frieden.

Und die Kriege der anderen gegen die jeder Frieden nur blaß ist, werden weiterhin von verständnislosen Kriegskorrespondenten und Nachrichtensprechern mit fester Stimme und politischen Vokabeln kommentiert werden - aus Beirut und anderswo. Sie wollen uns weismachen, Kriege seien furchtbar?