Systemwahl

■ Solidarnosc gewinnt haushoch, doch die Freude bleibt gedämpft

Ganz so überraschend ist der haushohe Wahlerfolg der „Bürgerkomitees“ von Solidarnosc doch nicht, wie es in den ersten Stellungnahmen aus Polen heißt. Immerhin war schon aus anderen Umfragen im vorigen Jahr abzulesen, daß die PVAP, die polnische KP, an einer Fünf-Prozent-Hürde zu knabbern hätte. Doch nachdem die Parteiführung in den letzten Wochen und Monaten nichts unversucht gelassen hatte, ihren Kandidaten ein neues, bürgerfreundliches Image zu verpassen, glimmte trotz aller Widersprüche und Ungereimtheiten doch noch mancher Hoffnungsfunken im Regierungslager. Sogar die Abbitte solch gestandener Oppositioneller wie Adam Michnik, der General Jaruzelski öffentlich für seinen Mut dankte, die politische Öffnung hergestellt zu haben, hat dem Regierungslager nichts genützt. Bei den ersten halbwegs freien Wahlen in einem kommunistischen Land ist ein vernichtendes Urteil über das „System“ gesprochen worden.

Über den haushohen Sieg scheint sich sogar Lech Walesa selbst zu sorgen. Denn mit dem sich abzeichnenden Ergebnis werden nicht nur die Betonköpfe im Regime vor den Kopf gestoßen, sondern gerade die Kräfte im „Apparat“ bloßgestellt, die für die politische Reform eingestanden sind. Und die könnte nach der Niederlage bald der Gegenwind aus dem Apparat aus den Reform-Gleisen werfen, zeigt das Ergebnis doch auch, daß der Reformkommunismus den Zerfall der Machtstruktur nicht aufhalten kann. Wenn nicht einmal Ministerpräsident Rakowski den Einzug in den Sejm schafft, muß das alle alarmieren.

Um die Verhandlungsergebnisse am runden Tisch nämlich umzusetzen, darf auch der Opposition um Walesa an einer gänzlich geschwächten Regierung nicht gelegen sein. Wenn nun die Polen von Solidarnosc das Heil erwarten würden, wäre die Gewerkschaft und ihre Führung heillos überfordert. Denn auch was Solidarnosc anzubieten hat, läßt die Hoffnungen der Polen nicht überborden. Die niedrige Wahlbeteiligung ist dafür ein Zeichen. Noch ist der Ausweg aus der drückenden Wirtschaftskrise von keiner Seite aufgezeigt. Und noch ist der „polnische Kompromiß“ verwundbar.

Erich Rathfelder