Statistische Klimmzüge

■ Aids-Prognosen auf der Konferenz von Montreal

Verläßliche Daten zur Verbreitung der HIV-Infektion existieren nicht.“ Diese nüchterne Feststellung aus dem Zwischenbericht der Enquete-Kommission Aids des Bundestages sagt alles, was zu den statistischen und epidemiologischen Prognosen in Sachen Aids zu sagen ist. Kein Mensch kann vorhersagen, wie sich die Infektionskrankheit in den nächsten elf Jahren bis zur Jahrtausendwende entwickeln wird. Alles, was gegenwärtig an Zahlen gehandelt und jetzt bei der Aids-Weltkonferenz in Montreal in furiosen Extrapolationen hochgerechnet wird, ist schierer Kaffeesatz.

Wer kann schon Koitus-Frequenzen und Kondom-Anlegequoten in den nächsten Jahren vorhersagen? Werden die 90er prüde oder wild? Wer weiß, wieviele Schwule und Heteros auf dieser Welt leben? Wer will den wissenschaftlich-medizinischen Fortschritt, die Infektiosität des Virus, die Anpassungsleistungen des Immunsystems, die Erfolge der Aufklärung, die Rückschläge durch Verdrängung prognostizieren? Wer weiß, welche Strategien in der Krankheitsbekämpfung sich am Ende durchsetzen werden? All dies hat Einfluß auf die Bekämpfung der Pandemie, all dies macht Prognosen der Ausbreitung zu waghalsigen, eigentlich unzulässigen Lotteriespielen. Man kann es auch apokalyptisches Geschwätz nennen.

Trotzdem: Je weniger man über die Seuche und ihre Dynamik weiß, je hilfloser man sich fühlt, um so hemmungsloser wird gerechnet und spekuliert. Eine Gier nach Zahlen und Daten dominiert die Debatte. Jeder sucht sich im epidemiologischen Gemischtwarenladen etwas aus und macht Stimmung für seine Sache.

Die Sache der WHO ist es, den Regierungen aller Länder möglichst viel Geld für die Bekämpfung der Seuche aus den Rippen zu leiern. Dagegen ist nichts zu sagen, solange man nicht selbst dazu beiträgt, die reale Situation durch die dunklen Zukunftsprojektionen zu verschleiern. Schon heute ist es ein Problem, daß die notwendig gewordene Korrektur der Endzeit-Visionen aus den Anfängen der Aids-Debatte von manchen als Entwarnung mißverstanden wird. Die momentane Ignoranz gegenüber Aids geht ganz wesentlich auf die Hochrechnungen Mitte der 80er Jahre zurück. Nachdem sich das damals vermittelte Bild der neuen Pest nicht bewahrheitet hat, geht es jetzt wieder „zur Sache Schätzchen“ - und zwar ohne Kondom. Die Aids-Realität 1989 ist bedrückend genug, auch ohne die hochgerechneten sechs Millionen Kranken im Jahr 2000.

Manfred Kriener