Heilige Kühe und rosarote Chamäleons

Schweizer Sozialdemokratie drückt sich um eine klare Parole in der Frage der im Herbst stattfindenden Volksabstimmung über die Abschaffung der Armee / Parteiräson siegt über politische Vision  ■  Aus Bern Thomas Scheuer

Die Schweizer Sozialdemokraten befürworten offenbar mehrheitlich die Abschaffung ihrer Armee, getrauen sich aber nicht, eine entsprechende Abstimmungsparole ans Wahlvolk auszugeben. Auf einem Sonderparteitag am Wochenende in Bern beschlossen die Sozis in Hinblick auf eine der umstrittensten Volksabstimmungen in der Geschichte der Alpenrepublik - es geht um die Abschaffung der Armee - die Stimmfreigabe.

Am 26. November werden Herr und Frau Schweizer an der Urne über die „Volksinitiative für eine Schweiz ohne Armee und eine umfassende Friedenspolitik“ befinden. Lanciert wurde das sensationelle Volksbegehren, kurz Armee -Abschaffungsinitiative genannt, von der „Gruppe Schweiz ohne Armee“ (GSoA), einem Bündnis pazifistischer Gruppen und Aktivisten, an dem auch die Jungsozialisten beteiligt sind.

Was in jedem anderen Land schon eine Sensation für sich wäre - wo befinden die Bürger mal locker über den Vorruhestand ihrer Militärs -, weckt in der Schweiz mit ihrem traditionellen Milizsystem besondere Emotionen. Mit der Initiative wird eine Hauptstütze eidgenössischen Nationalbewußtseins angesägt: der Mythos der Wehrhaftigkeit und der „bewaffneten Neutralität“. Entsprechend heftig tobt die öffentliche Auseinandersetzung.

Das Ergebnis der Abstimmung, die Ablehnung der Initiative, gilt zwar als sicher. Die Armee-Fans treibt jedoch die Angst vor einem hohen Prozentsatz an Ja-Stimmen. Während sich alle bürgerlichen Parteien in der rigorosen Abwehr der Attacke auf die heilige Kuh von vornherein einig waren, gerieten die Sozialdemokraten in die Zwickmühle.

Ein großer Teil der Parteibasis befürwortet nach wie vor die Armee-Abschaffungsinitiative, die Parteileitung dagegen bangt um die Einheit der Partei und ihre Regierungsbeteiligung (seit Jahrzehnten wird die Schweiz von einer Allparteienkoalition regiert, weshalb es im Parlament praktisch keine Opposition gibt). Mit einem Ja zur Antiarmee -Initiative, so fürchtete die Parteileitung, hätte die sozialdemokratische Partei wieder mal in der Ecke der Vaterlandsverräter eingeparkt. Vertreter der bürgerlichen Parteien hatten bereits getönt, ohne eindeutiges Bekenntnis zur militärischen Landesverteidigung hätten die Sozis nichts mehr in der Regierung verloren. Rücktrittsforderungen sind bisher allerdings ausgeblieben.

Auf ihrem außerordentlichen Parteitag im Berner Kursaal trugen die Sozis nun ihren Clinch über die fällige Abstimmungsparole aus. Während die Gegner der Initiative in der äußerst kontroversen Debatte die Abschaffung der Armee als nationale Selbstaufgabe brandmarkten, propagierten die Befürworter diese als eine einmalige Chance für einen „Aufbruch zu einem neuen Denken“. In einer Probeabstimmung sprach sich zunächst eine klare Parteitagsmehrheit von 641 zu 259 Stimmen für das Volksbegehren aus. Nach Interventionen der Parteileitung stimmten dann in der entscheidenden Schlußabstimmung jedoch 583 Delegierte für die Stimmfreigabe und noch 370 für die Ja-Parole. Die Parteiräson hatte über die politische Vision gesiegt. Was bleibt, ist das Bild eines sozialdemokratischen Chamäleons, das den Dinosaurier Armee im Grunde gerne ins Museum stellen würde, es aber nicht laut zu sagen wagt.