Wer kommandiert die Gewehre?

Chinas Revolutionsführer Mao Zedong hatte früh seine Kampferfahrung auf den Punkt gebracht: „Politische Macht kommt aus den Gewehrläufen.“ Diese Erkenntnis hat sich jetzt auf den Straßen Pekings wieder auf grausamste Weise bewahrheitet. Verbrüderungsszenen zwischen Studenten und Soldaten gehörten bereits der Vergangenheit an. Die „Volksbefreiungsarmee feuerte wahllos auf das eigene Volk. Noch nie in ihrer langen Geschichte hat Chinas Hauptstadt ein solches Gemetzel von befehlsabhängigen Soldaten der Obrigkeit an der eigenen Bevölkerung erlebt.

Die Soldaten aus verschiedenen Provinzen waren über die jüngsten Vorgänge in Peking überhaupt nicht unterrichtet oder völlig fehlinformiert. Soldaten berichteten, sie hätten seit Tagen keine Zeitung mehr zu Gesicht bekommen. Sie wurden vor ihrem Einsatz massiv indoktriniert: Sie sollten „konterrevolutionäre Aufrührer“ bekämpfen, die „die rechtmäßige Führung der Partei und Regierung stürzen“ und das sozialistische System zerschlagen wollten.

Es ist davon auszugehen, daß die große Mehrheit der Soldaten, die scharf schossen, diese Lügenpropaganda in völliger Ignoranz tatsächlich glaubte. Ein chinesischer Arzt äußerte die Vermutung, die um sich ballernden Soldaten seien möglicherweise auch unter aufputschende Drogen gesetzt worden. Andere Truppenteile waren offenbar weniger bereit, auf das Volk zu schießen, und es gab Anzeichen auf Risse innerhalb des Militärs.

Die Truppen, die zuerst über Leichenreihen zum Platz des Himmlischen Friedens vorrückten, kamen nach Informationen aus chinesischen Quellen von der 27. Einheit aus der Stadt Shijiazhuang (Provinz Hebei). Sie gelten als besonders brutale Truppe, die im vergangenen Jahr von der chinesisch -vietnamesischen Grenze zurückkam und früher in dem Krieg gegen den Nachbarstaat teilnahm.

Die 27. Einheit steht unter dem Kommando des 67jährigen Yang Baibing. Er ist auch der Chef der politischen Abteilung der „Volksbefreiungsarmee“ und der jüngere Bruder des 82jährigen Staatschefs Yang Shangkun, der als Vizechef der zentralen Militärkommission die Soldaten wegen der Studentenproteste nach Peking beordert hatte.

General Yang Shangkun und mit ihm weitere alte Militärführer, darunter Chinas letzte beiden Marschälle sowie Parteiveteranen hatten wiederholt erklärt, das Militär sei nicht nach Peking befohlen worden, um gegen die Studenten oder das Volk vorzugehen. Zwei Wochen lang lagen mehr als 200.000 Soldaten vor den Toren Pekings. Tatsächlich hielten sich die Soldaten zurück, ließen sich von der Bevölkerung aufhalten, und es hatte nicht den Anschein, daß sie den ausdrücklichen Befehl hatten, mit aller Gewalt die Menschenmengen und Sperren zu überwinden.

Bis zu dem blutigen Vorrücken gab die Haltung des Militärs viele Rätsel auf. Als gesichert gilt, daß die 38. Einheit aus der Stadt Baoding, die für den Schutz der Hauptstadt zuständig ist, schon vor Wochen nicht gegen die Studenten vorgehen wollte. Der zuständige Kommandeur wurde abgesetzt. Auch der 74jährige Verteidigungsminister Qin Jiwei, der früher der Militärchef für Peking war und jetzt als Mitglied des Politbüros und Staatsrat ein sehr einflußreicher Mann ist, tauchte unter.

Es gab Gerüchte, auch Qin Jiwei sei abgesetzt und unter Hausarrest gestellt worden, weil er die harte Linie nicht mitmachen wollte. Doch am Vorabend des Massakers tauchte er plötzlich wieder auf. Bereits zuvor hatten sich - offenbar nach einigem Zögern - nach amtlichen Verlautbarungen sämtliche sieben Militärregionen sowie Marine und Luftwaffe hinter die Verhängung des Ausnahmezustands und die Mobilisierung des Militärs gestellt. Mit dieser Geschlossenheit nach außen wurde dann der Befehl zum rücksichtslosen Vormarsch gegeben.

Es ist noch unklar, wer an der Spitze des Militärs oder der Partei für die barbarischen Befehle verantwortlich ist. Unbestreitbar spielte Yang eine entscheidende Rolle, der im Fernsehen die Mobilisierung des Militärs mitgeteilt und gerechtfertigt hatte. Eigentlich muß Deng Xiaoping als Chef der zentralen Militärkommission und damit Oberbefehlshaber der Streikräfte die Befehle mitgetragen und mitformuliert haben.

Doch der 84jährige Deng trat seit fast drei Wochen überhaupt nicht mehr in der Öffentlichkeit auf, und es gab nur unüberprüfbare Gerüchte, nach denen er in Peking von einem Militärhospital aus den Einsatz geleitet haben soll, nachdem er sich angeblich zuvor in der Provinz der Loyalität seiner Truppen versichert haben soll. Es gab unter chinesischen Beobachtern auch die Einschätzung, daß Yang Shangkun, gestützt auf seinen jüngeren Bruder und den 62jährigen Generalstabschef Chi Haotian, der sein Schwiegersohn sein soll, sich als neuer Militärchef und starker Mann Chinas etablieren wollte.

Edgar Bauer (dpa)