Peking am Tag danach

■ Generalstreik zu fast 100 Prozent befolgt / Gestern vormittag schoß die Armee weiter in die Bevölkerung

Noch sind die Toten auf Pekings Plätzen und Straßen nicht gezählt, noch schießt die Armee weiter, noch werden weitere Opfer in die Krankenhäuser der Hauptstadt eingeliefert. Doch eines ist bereits sicher: Die „Volksbefreiungsarmee hat noch nie ein solches Massaker an der Bevölkerung angerichtet. Das China danach wird nie mehr das China davor sein. Einige Greise können im Reich der Mitte das Rad der Geschichte vielleicht vorübergehend anhalten, aber sie können es nicht zurückdrehen. Möglicherweise steht China sogar vor einem Bürgerkrieg. Wer aber kommandiert die Gewehre?

Aus Peking Th. Reichenbach

Einen Tag nach dem Massaker der Armee an der eigenen Bevölkerung hat sich eine gespenstische Atmosphäre über Peking gelegt. Die Arbeiter sind dem Aufruf zum Generalstreik zu fast 100 Prozent gefolgt, alle Räder stehen still. Die Betriebe sind verlassen, an den Baustellen ist niemand zur Arbeit erschienen, die Geschäfte einschließlich der Lebensmittelläden haben ausnahmslos geschlossen. Kinos und Theater haben alle Vorstellungen abgesagt. Restaurants und Kioske haben ihren Service eingestellt.

Auf den sechsspurigen Straßen sind nur Radfahrer zu sehen, die Omnibusse und U-Bahnen fahren nicht mehr, der Autoverkehr ist fast auf Null zurückgegangen. Alle zwei Straßenkilometer steht eine Barrikade mit schmalen Durchlässen für Fußgänger auf jeder Seite. In der ganzen Stadt bis in die Außenviertel hinein liegen die ausgebrannten Wracks von Armeejeeps, Militärlastwagen und Mannschaftspanzerwagen. Im Universitätsviertel Haidian umringen Hunderte Pekinger jeden Alters die noch rauchenden Reste eines Kettenfahrzeugs, das Arbeiter gestern nacht mit Benzinflaschen in Brand setzen konnten. Die Kreuzungen sind voll von diskutierenden Menschen, die Verkehrsschilder sind mit den Zeichen für „Generalstreik“ und „Ladenstreik“ überklebt. An den Mauern hängen Aufrufe zum Widerstand gegen die Mörderregierung. Überall in der Stadt sind die weißen Trauerblumen zu sehen. Tausende sind vor den Universitäten zusammengeströmt, um die Nachrichten des Studentenrundfunks zu hören.

Die ganze Nacht über hatte es Zusammenstöße zwischen Soldaten und der Bevölkerung gegeben, weitere Tote wurden gemeldet. Die Armee hat noch nicht aufgehört, mit scharfer Munition gegen Blockierer vorzugehen. Einheiten, die auf ihrem Vormarsch auf neue Barrikaden stießen, ballerten wild um sich. Einzelne Fahrzeuge, die sich zu weit vorgewagt hatten, wurden gestürmt und abgefackelt. Bei Muxudi in der Nähe des Zentrums hat sich die Armee zurückgezogen, so daß es möglich wurde, ohne unmittelbare Gefährdung das Schlachtfeld in Augenschein zu nehmen.

Gleich im Dutzend stehen hier die zerstörten Lkws und Panzerfahrzeuge in der Straßenmitte, viele noch qualmend. Jugendliche turnen auf den Panzern herum, zwei von ihnen trugen erbeutete Stahlhelme. Viele Fensterscheiben sind zerbrochen. Die Straßen sind bedeckt mit Pflastersteinen und zersplitterten Flaschen. Die grausigste Entdeckung machte ich in der Einkaufsstraße Xidan: Vier strangulierte Soldaten hingen an Laternenmasten, die Leichen schwarz verkohlt, gräßlich entstellt und eingeschrumpft. Die Bevölkerung hatte den Trupp nachts isoliert und gelyncht, die Gehängten danach mit Benzin übergossen und angezündet. Die Studenten sprechen sich gegen diesen blinden Haß gegen die Soldaten aus. „Wir verurteilen das Lynchen von Soldaten, denn es hat bereits zu viele Tote gegeben“, erklärt das Studentenkomitee der Peking -Universität (Beida).

Einige Einheiten, die vor Ort eingesetzt wurden, hätten sich geweigert, das Feuer zu eröffnen. Die Soldaten des 27.Korps aus Shanxi dagegen hatten sich wie Schlächter benommen. „Statt die Soldaten anzugreifen müssen wir der Bevölkerung klar machen, daß die Hauptfeinde die Mörder Deng Xiaoping, Li Peng und Yang Shangkun sind“, so die Studenten. Während die Bevölkerung nachts dem Ausgangsverbot trotzte und sich mit der Armee Straßenschlachten lieferte, hatten sich die meisten Studenten an die Universitäten zurückgezogen. Da in den Nachrichten bereits von einer Besetzung der Universität durch die Armee die Rede war, herrschte dort fieberhafte Aktivität.

Die Studenten vernichteten Berge von Papier und brachten die Druckmaschinen und Kopierer an einen sichereren Ort. An die Studenten wurden kistenweise Flugblätter verteilt, um die Bestände noch vor dem Eintreffen der Armee zu räumen. Namenlisten wurden schnell verbrannt. Über die Lautsprecheranlage forderte das Komitee die Studenten auf, in die Wohnheime zurückzukehren und dort auch bei Eintreffen des Militärs auszuharren. „Widerstand wäre vergeblich und würde nur neue Opfer fordern. Wir werden den Kampf mit den Mitteln totaler Verweigerung fortsetzen.“ Die Besetzung der Universitäten fand gestern abend aber überraschenderweise noch nicht statt. Statt dessen kreisen über dem Universitätsviertel ständig Aufklärungshubschrauber, die Universitätspräsidenten wurden über eine bevorstehende Besetzung bereits informiert.

Die Botschaften haben seit gestern abend die Mehrheit der ausländischen Studenten bereits in ihre Obhut gebracht, viele packen ihre Koffer. Auf dem Campus wird Trauermusik gespielt. Das gestern gegründete Trauerkomitee versucht die Namen der Toten herauszubekommen und die Angehörigen zu benachrichtigen. Das Komitee wird umringt von Dutzenden verzweifelter Eltern, die immer noch keine Nachricht vom Verbleib ihrer Kinder haben.

Noch kann niemand eine verläßliche Gesamtzahl der Opfer nennen, aber es müssen Hunderte sein. Ärzte berichteten, daß in den Krankenhäusern die Toten in langen Reihen nebeneinander liegen. Stündlich werden es mehr.