: „Non offensiv-defence“ - Karriere eines Begriffs
Hochrangige Experten aus Ost und West diskutierten die Perspektiven eines militärischen Strukturwandels nach der Ära des kalten Krieges / Ein Paradigmenwechsel ist nicht zu übersehen / Nato-Truppen wollen möglichst viel ihres „kostbaren Materials retten“ ■ Aus Loccum Jürgen Gottschlich
Für Dr.Sergeij Plechanov, stellvertretender Direktor des Moskauer Instituts für USA- und Kanada-Studien, geht es um die erstaunliche Erfolgsgeschichte eines Begriffs: die Idee der „non offensiv-defence“, übersetzt die strukturelle Angriffsunfähigkeit als militärische Doktrin, habe einen Siegeszug hinter sich, von dem vor wenigen Jahren noch niemand zu träumen gewagt hätte. Entwickelt wurde die Vorstellung Ende der 70er Jahre in bundesdeutschen Militärkreisen, für die die Abschreckung als Grundpfeiler der militärischen Konzepte in Ost und West zunehmend fraglich wurde. Ursprünglich gedacht als einseitige Maßnahme, schlugen sie vor, die Nato-Streitkräfte so umzurüsten, daß diese ausschließlich zu einer defensiven Territorialverteidigung in der Lage seien.
Diese Idee, so Plechanov, sei in Brüssel entsetzt als Hirngespinst abgetan worden. Mitte der 80er Jahre habe jedoch der Warschauer Pakt dieses Konzept aufgegriffen und 87 als neue Doktrin verabschiedet. Unsere bisherigen einseitigen Maßnahmen, so der Professor aus Moskau, zielen genau darauf ab, den Zustand der Angriffsunfähigkeit herzustellen. Das werde nun auch im Westen begriffen. Erst kürzlich habe ihn eine hochrangige Delegation des US -Kongresses intensiv nach dieser Vorstellung befragt. Über den Umweg Moskau wird die Idee der „non offensiv-defence“ jetzt offenbar auch in Washington als seriöse Vorstellung gesehen.
Überschäumender Optimismus aus Moskau oder tatsächlich der Einstieg in den Ausstieg der Abschreckungsdoktrin mit dem dazugehörigen Aufrüstungsautomatismus? Eine Antwort auf diese Frage war auch nach dreitägiger Debatte unter knapp 200 Sicherheitsexperten aus Ost und West, die sich in der evangelischen Akademie in Loccum getroffen hatten, nicht zu haben.
Eins war jedoch unübersehbar: Ein Paradigmenwechsel findet statt. Die Politik der reinen Rüstungsbegrenzungsverhandlungen ist vorbei, reale Abrüstung ist möglich und wird auch kommen. Genauso wie Gorbatschow die Nato auf der Bühne der Weltöffentlichkeit vor sich hertreibt, drängen die Sowjets auf Expertenebene auf Veränderungen. Wenige Tage nach dem Brüsseler Nato-Gipfel standen dabei die konventionelle Abrüstung und die atomaren Kurzstreckenraketen im Mittelpunkt des Interesses. Für die Warschauer-Pakt-Vertreter ist dabei völlig klar, daß atomare Kurzstreckenwaffen als die tragenden Elemente der Abschreckungsdoktrin abgeschafft gehören.
Unterstützung erhielten sie in diesem Punkt vom Direktor des Stockholmer Friedensforschungsinstituts SIPRI, Walter Stützle, der kategorisch feststellte: Wer für die Null -Lösung bei den Mittelstreckenraten war, muß auch für Null bei den Kurzstreckenraketen sein. Alles andere ist völlig unlogisch. Allein die Reaktionen amerikanischer und französischer Vertreter machten klar, daß im gegenwärtigen Prozeß einer Neugestaltung der europäischen Nachkriegsordnung Logik nicht die einzige und auch nicht die bestimmende Dimension ist. Für Ex-US-Botschafter Dean, seinen Kollege vom Bostoner Forschungsinstitut MIT, Griffith, und den Chef des Pariser Instituts für Internationale Beziehungen, Jean Klein, sind Atomwaffen zumindest eine Art Rückversicherung, falls die Entwicklung in der Sowjetunion doch nicht so läuft, wie man jetzt hofft.
Unisono ist das westliche Sicherheitsestablishment nach wie vor der Auffassung, ein Teil der atomaren Waffen sei auf absehbare Zeit unverzichtbar, Abschreckung als Doktrin könne (noch) nicht zur Disposition gestellt werden. Die Probe aufs Exempel, so wurde oftmals mit einem unüberhörbar gönnerhaften Unterton erklärt, werde ja nun im konventionellen Bereich gemacht. Und tatsächlich stünden die Chancen in Wien ja nicht schlecht.
Der Durchbruch bei den Verhandlungen, so der Vertreter des Bonner Auswärtigen Amtes, Roßbach, sei bereits erzielt worden, als man sich darauf verständigte, für alle Waffengattungen gemeinsame Obergrenzen zu definieren, statt vom Status quo proportinal herunterzugehen. Damit sei die Beseitigung von Asymmetrien akzeptiert - ein wesentlicher Unterschied zu den über 15 Jahre ergebnislos verlaufenen MBFR-Verhandlungen. In Wien sei bei den entscheidenden konzeptionellen Fragen eine Einigung erzielt - „der Rest ist zwar noch schwierig, aber das sind technische Fragen, die man lösen kann“.
Strittig wurde es wieder bei der Frage, ob die bisherigen Vorschläge zur konventionellen Abrüstung bereits eine qualitative Veränderung in Richtung Angriffsunfähigkeit beider Armeen zur Folge haben würden.
Noch ist diese Diskussion davon geprägt, daß Nato-Vertreter mehr oder weniger offen behaupten, ihre Truppe sei doch nie angriffsfähig gewesen, und jetzt ginge es deshalb nur darum, daß die Sowjets ihr Angriffspotential verschrotten. Entsprechend sehen die Nato-Vorschläge im Moment auch noch aus. Sie sind genau darauf abgestellt, so ein bundesdeutscher Friedensforscher, möglichst viel „von dem eigenen kostbaren Material“ über die Zeit zu retten.
Doch bei aller Borniertheit auf westlicher Seite: Da jeder weiß, daß auch die Nato nicht mit Steinschleudern an der deutsch-deutschen Grenze steht, schwant den Protagonisten, daß sie sich auf Dauer der Dynamik des Abrüstungsprozesses nicht werden entziehen können. Ein Bundeswehrvertreter brachte seine Befürchtungen dabei auf den Punkt: Warum, wenn diese Konzepte realisiert würden, bräuchten wir eigentlich noch Armeen, wenn diese sich doch nur noch „angriffsunfähig“ gegenüberstehen würden?
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