Polens Regierung kündigt Rücktritt an

Nach dem Sieg der Opposition bei den Wahlen interpretiert die Regierung das Ergebnis auf eigenwillige Art: „Die Summe der individuellen Entscheidungen ist nicht der Gesamtwille der Wähler“ / Partei fordert Solidarnosc zur Regierungsbeteiligung auf  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

„Die Welt endet nicht mit den Wahlen“, erklärte Polens Regierungssprecher Rykowski gestern vor der Presse in Warschau. Die Wahlen, bei denen Polens Kommunisten eine herbe Niederlage einstecken mußten, hätten plebeszitären Charakter gehabt und seien für die Regierungskoalition ungünstig ausgegangen. Zwar solle man vor der Bekanntgabe der amtlichen Endergebnisse keine zu weit gehenden Schlüsse ziehen, doch könne man schon jetzt sagen, daß die Entscheidungen der Wähler von Emotionen und Abreaktionen geprägt gewesen seien. „Aber ist die Summe dieser individuellen Entscheidungen tatsächlich der Gesamtwille der Wähler?“ übte sich Rykowski in Dialektik, um dann selbst zu antworten: „Nein.“ Die Journalisten im internationalen Pressezentrum, die sich dort in nie dagewesener Anzahl drängten, lachten laut auf.

Dennoch, so Rykowski weiter, sehe auch die Regierung keinen anderen Weg, als jenen weiterzugehen, den man mit demokratischen Reformen begonnen habe. „Wir hätten auch als Block antreten können“, erklärte der Regierungssprecher mit Blick auf die Taktik von Solidarnosc, „doch das wäre konfrontativ gewesen.“ Die Linke erstehe in Polen nun neu als gesellschaftliche Bewegung, will Rykowski nach der eingestandenen Niederlage der Koalition beobachtet haben. „Wir sind pluralistisch.“ Rykowski bedauerte auch, daß die Propaganda von Teilen der Opposition gegen die Landesliste offenbar erfolgreich gewesen sei, bezeichnete es aber als kurzsichtig, die Tür vor jenen zuzuschlagen, die die Initiative zu Reformen ergriffen hätten. Auf die Frage, ob die Regierung Rakowski die Konsequenz aus der Wahlniederlage ziehe und nach dem 18. Juni zurücktrete, antwortete Rykowski: „In Übereinstimmung mit der guten parlamentarischen Tradition tritt die Regierung nach Wahlen zurück.“ Offenbar herrscht auch in der Regierung Ratlosigkeit über das Schicksal der Landeslisten, die mindestens mehrheitlich durchgefallen zu sein scheinen. Damit entsteht in Polen ein Verfassungskonflikt, da die Plätze der durchgefallenen Kandidaten nicht besetzt werden, das Parlament aber, der Sejm, laut Verfassung 460 Abgeordnete haben muß. In Parteikreisen wird damit im Zusammenhang erörtert, ob man mit der zweiten Runde am 18.Juni Ergänzungswahlen durchführt, doch sind solche Ergänzungswahlen in der Wahlordnung nicht vorgesehen. In der Opposition wird deshalb befürchtet, durchgefallene Kandidaten könnten versuchen, die Wahlen anzufechten. Regierungssprecher Rykowski bezeichnete den entstandenen Konflikt als Unachtsamkeit bei der Ausarbeitung der Wahlordnung, wußte aber selbst keine Antwort auf die Frage, wie es weitergehen solle.

Triumph bei Solidarnosc

Wie niederschmetternd die Wahlergebnisse für Polens Kommunisten sind, wurde bereits am Montag abend deutlich, als immer mehr Wahlergebnisse aus der Provinz in der Solidarnosc-Zentrale in Warschau eintrafen: Die Prozentsätze der Solidarnosc-Kandidaten lagen zwischen 70 und 80 Prozent. Auch unter den rivalisierenden Oppositionsgruppen ging das Bürgerkomitee von Solidarnosc als Siegerin hervor. Das Duell zwischen dem Atheisten Jacek Kuron zum Beispiel und dem Christdemokraten Waldyslaw Sila-Nowicki im nördlichen Warschauer Stadtbezirk Zoliborz entschied Kuron mit 66 zu 25 Stimmen eindeutig für sich. Da half es den Christdemokraten, die mit fünf Konkurrenzkandidaten in den Wahlkampf gezogen waren, auch nichts, daß Sila-Nowicki und ihr Kandidat aus Schlesien, Kazimierz Switon, noch unmittelbar vor der Wahl vom polnischen Primas Jozef Glemp empfangen und damit mit dem Segen der Kirche versehen worden waren.

Noch niederschmetternder war das Ergebnis für einen anderen Warschauer Christdemokraten, Janusz Zablocki, der in Mokotow im Süden Warschaus gegen Solidarnosc angetreten war: er brachte es gerade auf knapp drei Prozent. Auf dem Warschauer Platz der Verfassung, wo Solidarnosc im Gebäude des Kaffeehauses „Niespodzianka“ (sinnigerweise zu deutsch „Überraschung“) ihre Wahlkampfzentrale hat, fielen sich die Menschen um den Hals, flossen Tränen und Sekt. Solche Ergebnisse hatten nicht einmal die Kandidaten selbst erwartet. Kaum ein Ort, an dem Kandidaten des Bürgerkomitees überhaupt zum zweiten Wahlgang antreten müssen.

Überraschung herrscht auch in der Opposition über das Schicksal der Landesliste, auf der sich die Partei- und Regierungsprominenz ursprünglich einen leichten Eingang in den Sejm erhofft hatte. Das sei, wiegelte da selbst Solidarnosc-Sprecher Janusz Onyszkiewicz am Abend im Fernsehen ab, ein Abreagieren auf die Vergangenheit, auf den stalinistischen Regierungsstil der vergangenen 40 Jahre, keinesfalls aber dürfe dieses erbarmungslose Ausstreichen als Absage an den runden Tisch verstanden werden. Das Wahlergebnis sei auch eine Niederlage für diejenigen, so Onyszkiewicz weiter, die im Vorfeld der Wahlen behauptet hatten, das Bürgerkomitee Solidarnosc sei eine kleine Gruppe von Usurpatoren ohne Rückhalt in der Bevölkerung, die ihre Kandidaten auf undemokratische Weise aufgestellt habe. „Diese Vorwürfe werden vom Wahlergebnis vollkommen abgeschmettert.“ In den Abendnachrichten tritt dann auch ein bleicher, aber dennoch gefaßter Parteisprecher Jan Bysztyga im Namen der Regierungskoalition auf und bekennt sich zur Niederlage: Als man die Entscheidung für freie Wahlen, für demokratische Wahlen gefaßt habe, sei sich die Koalition des damit verbundenen Risikos bewußt gewesen und habe es einkalkuliert. „Aus den letzten Nachrichten, die uns erreichen, geht hervor, daß das Ergebnis für die Koalition tatsächlich ungünstig ist. Die Wahlen waren plebeszitär, und Solidarnosc hat die eindeutige Mehrheit gewonnen.“ Man werde jedoch konsequent bleiben, fuhr Bysztyga fort: „Wir erwägen keine andere Alternative, als die politische Konsequenz aus dem Wahlergebnis zu ziehen. Die Partei wird vom Weg einer weiteren Demokratisierung und Reform nicht abgehen.“ Es stelle sich jedoch das Problem der Verantwortlichkeit für den polnischen Staat. Solidarnosc solle, so klingt durch, ebenfalls konsequent sein und in die Regierung eintreten, knüpft er an den Vorschlag General Jaruzelskis von vor den Wahlen an, eine breite Reformkoalition zu bilden. Solidarnosc-Berater Geremek hat eine Beteiligung an der Regierungsverantwortung nicht abgelehnt, zugleich aber betont, die Identität der Opposition müsse dabei erhalten bleiben, und die bestehe eben nicht im Regieren, sondern im Aufzeigen von Alternativen aus der Opposition heraus. „Wir dürfen nicht zulassen, daß wir sozusagen im Nomenklatursystem aufgehen, aber wir dürfen uns auch nicht auf triumphal konfrontative Rhetorik einlassen“, warnte Adam Michnik in der ersten Nachwahl-Ausgabe der Wahlkampfzeitung. Die Tatsache, daß andere Oppositionsgruppen schlecht abgeschnitten haben, wertete Michnik als Zeichen dafür, daß die Bevölkerung allen Extremen eine Absage erteilt habe. Daß allerdings des Primas‘ Unterstützung für die Christdemokraten nichts geholfen hat, macht deutlich, daß selbst Kirchenvertreter offenbar nur dann auf breitere Unterstützung rechnen konnten, wenn sie aus dem Bürgerkomitee heraus kandidierten.

Im Warschauer Stadtteil Wola erreichte der Berater des Episkopats Jacek Ambroziak über 80 Prozent - als Kandidat, der von Walesa unterstützt wurde. Niederschmetternd auch das Ergebnis auf den Parteilisten: Die geringe absolute Stimmenzahl dort macht deutlich, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung nicht nur für Solidarnosc, sondern zugleich heftigst gegen die Partei Stellung genommen hat. Die Sieger in einzelnen Wahllokalen von Solidarnosc haben dagegen meist über 1.000 Stimmen, die Sieger auf den Parteilisten zwischen 100 und 200. In vielen Fällen muß zwischen den Parteikandidaten, die für reservierte Plätze kandidieren, erst die zweite Runde entscheiden. Solidarnosc indessen braucht sich in zwei Wochen, wenn die zweite Runde beginnt, keine Sorgen zu machen. In Stettin, wo höchstwahrscheinlich alle sechs Kandidaten des Komitees in der ersten Runde durch sind, überlegte man sich schon am Sonntag, ob man in der zweiten Runde bestimmte Parteikandidaten unterstützen soll. Voraussichtlich wird man jedoch nichtöffentlich Stellung nehmen. Faktisch besteht jedoch die Möglichkeit, daß Solidarnosc über die Plazierung innerhalb der Parteilisten in der zweiten Runde quasi mitbestimmt.