KEIN GOTT, KEINE STRAFE

■ „Lärm und Wut“ von Jean-Claude Brisseau

Eine Ankunft in Paris, die trostloser kaum sein könnte: Inmitten einer schier endlos wuchernden Betonwüste steht allein und verloren der Junge Bruno (Vincent Gasperitsch), an seiner Seite ein Vogelkäfig; sich selbst Mut machend, redet er mit seinem Vogel, der in einem Gefängnis lebt, das vielleicht gar nicht mal so übel ist im Vergleich mit dem, was Bruno erwartet.

Nach dem Tod seiner Großmutter soll diese Schlafstatt, dieser Hochsicherheitswohntrakt sein neues Zuhause werden. Die Mutter speist ihn am Telefon mit einer runtergeleierten Begrüßung ab, während des ganzen Films ist sie nur durch ein paar Zettel existent, die sie ihm jeden Morgen hinterläßt. Trotzdem wird Bruno ein heißer Empfang bereitet: Im Treppenhaus fackelt ein Junge Fußmatten ab, der Hausmeister schleppt den Übeltäter zum Vater, doch statt einer Gardinenpredigt drischt der Vater zunächst den Hausmeister zusammen, dann seinen Sohn: „Niemand hat das Recht, meinen Sohn zu schlagen, niemand außer mir!“

„Lärm und Wut“, der Erstlingsfilm des jungen Franzosen Jean -Claude Brisseau ist reich an solchen bösen Überraschungsmomenten, die jenseits von Gut und Böse liegen, und dieser Einstieg, voller Aggression und Aktion führt vehement Brisseaus Methode vor Augen, die Dinge auf den Punkt zu bringen, drastisch und direkt. Daß Brisseau das unglaublich hohe Tempo seiner Inszenierung 90 Minuten lang durchzieht, ohne an Schärfe und Präzision zu verlieren, ist eines dieser Wunder, die es im Kino viel zu selten gibt. Was hier geliefert wird, geht weit über die mitleidende und deshalb ohnmächtige Elendsbestandsaufnahme einer kauptten Welt hinaus; statt kopflastiger Analyse setzt es emotionale Attaken, die brutal, sinnlich und komisch zugleich immer wieder Freiräume schaffen für jene unerwarteten Wendungen in der Geschichte - einmal davon gepackt, gibt es dann kein Ausweichen mehr. Außer Kubricks „Clockwork Orange“ fällt mir kein Film ein, der mit solch einer kaltblütigen Leidenschaft Gewalt als eine Ästhetik des Aufbegehrens darstellt, von der eine unglaubliche Anziehung, eine betäubende Faszination ausgeht. Da brodelt eine Irrationalität, tobt sich ein Widerstand aus, der alle überkommenen politischen und soziologischen Erklärungsschubladen sprengt, weil es um das Bedürfnis und die Notwendigkeit einer Revolte gegen alles geht.

Bruno und Jean (Francois Negret), der Fußmattenkokler, werden Freunde, die zwar nicht gemeinsam bis zum bitteren Ende durch Dick und Dünn gehen, aber über das Leben hinaus, das sie eigentlich nicht hatten, finden sie wieder zusammen. Es gibt zwischen den beiden einen Knacks, weil Jean neidisch ist auf Brunos Träume, mit denen er sich aus der Realität flüchtet; Jean bleibt allein mit seinem Haß und der Zerstörungswut, die schließlich die Katastrophe heraufbeschwört. Er ist geprägt durch seinen Vater, der ihm die Lektionen des Lebens durch Schießübungen in der Wohnung erteilt und seinem Sohn mit Nachdruck immer wieder einschärft, daß es darauf ankommt, sich nicht für dumm verkaufen zu lassen und niemals ein Sklave zu sein. „Es gibt keinen Gott... keine Strafe... nichts“, sagt er an einer Stelle, und dies ist mehr als nur ein nihilistisches Glaubensbekenntnis.

Die klare Autorität, mit der er seine Familie zusammenhält, seine unnachgiebige Härte, gepaart mit souveränem Humor, mit der er sie nach außen verteidigt, und seine kriminellen Lebensenergien stehen für eine subversive Moral gegen alle Zwangsjacken der Gesellschaft. Er wird zum Verlierer, weil ausgerechnet sein ältester Lieblingssohn Thierry ihn verrät; der geht einer geregelten Arbeit nach, raucht und trinkt nicht mehr, und alles nur wegen einer Frau.

Das ist der Stoff, aus dem Komödien sein könnten; bei Brisseau mündet das in eine Tragödie, die tragischer nicht enden kann und einem wirklich das Herz herausreißt.

DOA

„Lärm und Wut“ im Broadway und Movimento