„Das Denken modernisieren“

■ Als Parallelveranstaltung wird die „Kirchentagskampagne“ wieder Themen aufgreifen, die auf dem Kirchentag zu kurz kommen

Wenn der Zug um 10.49 Uhr einfährt, ist der rote Teppich schon ausgerollt: Mit großem Bahnhof wird heute der fünfzigtausendste Kriegsdienstflüchtling aus Westdeutschland in West-Berlin empfangen. Mit dem Empfangsspektakel am Bahnhof Zoo wird die „Kirchentagskampagne '89“ eröffnet, die unter dem Motto „Das Denken modernisieren. Abrüsten für Gerechtigkeit und Frieden“ steht. Seit 1981 findet die Kampagne, von der offiziellen Kirchentagsleitung ignoriert bis totgeschwiegen, parallel zum offiziellen Programm statt. „Wir wollen damit ein Thema, das der Kirchentag unserer Ansicht nach nur ungenügend behandelt, in den Vordergrund schieben“, erklärt Kampagnensprecherin Thurid Pörksen. Unterstützt wird die Kampagne von einem breiten Bündnis verschiedenster Gruppen im Spektrum zwischen Kirche und Friedensbewegung.

Zwei Themenbereiche stehen im Mittelpunkt der diesjährigen Kampagne: Es geht um Abrüstung, und um die Frage, wie die Kirche mit ihrem Geld umgeht. Der Empfang des fünfzigtausendsten Kriegsdienstflüchtlings wird mit einem Aufruf zur Totalverweigerung verbunden sein, denn „Ersatzdienst ist auch Kriegsdienst - ohne Waffe“, wie der Totalverweigerer Gerhard Scherer, dessen Fall in den letzten Wochen durch die Presse ging, erklärt.

Gleichzeitig wird damit auf ein spezifisches Berliner Politikum hingewiesen. West-Berlin kennt bekanntermaßen weder Wehr- noch Zivildienstpflicht. Deswegen haben sich, so die inoffiziellen Schätzungen, seit Gründung der Bundeswehr rund 50.000 junge Männer nach Berlin geflüchtet. Wer sich, wie Gerhard Scherer, dem angefangenen Zivildienst durch Flucht entzieht, muß aber auch hier aufgrund der Rechtseinheit mit dem Bund mit einer Abschiebung rechnen.

Die Finanzen der evangelischen Kirche sind der andere Schwerpunkt der Kirchentagskampagne. Dabei geht es zum einen um die Forderung vieler Kirchenmitglieder an die Kirchenleitung, ihre Finanzpolitik transparenter zu gestalten. Bekannt ist, daß die Kirchen in den letzten Jahren ihre Sparrücklagen deutlich erhöht haben - bei gleichzeitigen Stellenstreichungen im kirchlichen Bereich. Schätzungen gehen von Kapitalrücklagen in Höhe von zehn Milliarden Mark aus, die, so wird angenommen, von Banken verwaltet werden, die unter anderem Rüstung fördern und das südafrikanische Regime unterstützen. Morgen findet deshalb ein „Bankenspaziergang“ statt, bei dem unter anderem vor der Deutschen Bank, der Bank für Handel und Industrie und der Commerzbank protestiert werden soll. Zum Abschluß der Kampagne ist für Samstag eine große Friedensdemonstration zum Charlottenburger Schloß geplant. Informationen zu den Veranstaltungen im Kampagnenbüro unter Telefon 8325060. Frauke Langgut