Gefährliches Schattenboxen zweier Armeen

■ Während Pekings verfeindete Truppen in Stellung gehen, sucht die militärische Führung nach dem Kompromiß

Noch ist in Peking nichts entschieden. Es gibt Anzeichen dafür, daß sich neben der „Macht aus den Gewehrläufen“ und dem „Eins teilt sich in zwei“ auch ein drittes Wort von Mao

-etwas modifiziert - auf die Lage in Peking anwenden ließe: Die Parteiführung ist ein „Papiertiger“. Denn die Entscheidung über Krieg und Frieden, über Reform und Gegenreform liegt jetzt nicht mehr im Politbüro, sondern einzig bei den militärischen Führern. Von den Machtverhältnissen innerhalb der Generalstäbe hängt es ab, ab die Truppen der27.Armee, die treuen Gewehrläufe der Hardliner um Den Xiaoping und Staatspräsident Yang Shungkun, die chinesische Hauptstadt räumen müssen oder ob es zum Bürgerkrieg kommt.

Pekings Truppen manövrieren. Den ganzen Mittwoch über versuchten rivalisierende Armeeteile, ihre Soldaten und Panzer in die günstigsten strategischen Positionen zu bringen. Währenddessen kursieren Berichte über Verhandlungen, mit denen ein militärischer Konflikjt in oder um Peking vermieden werden soll. In und um Peking stehen zur Zeit 200.000 Soldaten.

Die Tanks der „Massaker-Armee“, wie sie in Peking nur noch genannt wird, kurvten gestern durch Pekings Straßen, um die Zufahrt für Versorgungsfahrzeuge zu sichern. Zur gleichen Zeit ließen sich Einheiten der 38.Armee, die den Einsatz auf dem Tiananmen verweigert hatte (siehe Interview), zigarettenrauchend fotografieren und von der Bevölkerung als die wahre „Volksbefreiungsarmee“ feiern. „Wir sind nicht gegen das Volk“, versprach einer der Offiziere per Lautsprecher. Die Zufahrtsstraße zum Flughafen im Norden der Hauptstadt soll unter Kontrolle der 40.Armee stehen, auch sie auf Seiten des reformfreundlichen Noch-Parteichefs Zhao Ziyang. Die Bevölkerung der nördlichen Bezirke habe, so wird berichtet, die leichtbewaffneten Soldaten mit Nahrung versorgt.

Nach Diplomatenberichten hat es nur gelegentliche Schußwechsel zwischen den beiden Armeen gegeben. Nur Montag nacht hätte die 27.Armee mit Maschinengewehren auf Infanterietruppen geschossen. Alles scheint auf eine Lösung in den obersten Armeerängen zu warten. Chinas politische Führer halten sich nach wie vor bedeckt, noch keiner hat sich in der Öffentlichkeit blicken lassen. Aber das spielt keine Rolle mehr: Das Gesetz des Handelns liegt jetzt bei der Armee.

Die militärische Lage ist noch verworren. Die 27.Armee ist zwar von einer anderen Einheit aus Chengdu verstärkt worden und kontrolliert weiterhin das Zentrum der Hauptstadt, doch nur einen Straßenblock von ihrem westlichen Verteidigungsring entfernt steht schon die 38.Armee auf einem Parkplatz des Militärhistorischen Museums.

Am Mittwoch morgen waren rund zehntausend Soldaten vom Tiananmen abgezogen. Unter martialischen Gesängen marschierten sie über die Straße des Himmlischen Friedens und riefen, wie um sich Mut zu machen: „Schluß mit dem Chaos!“ Dann kesselten sie den Jian-Guo-Men-Komplex ein, ein Gebäude für Ausländer und Diplomaten im Zentrum. Die Soldaten suchten, so erklärten sie, nach einem Schützen, der aus dem Gebäude auf die Armee-Einheit gefeuert haben soll. Niemand dürfte in das Gebäude hinein oder heraus.

Zuvor hatten Soldaten der 27.Armee bereits Schüsse direkt auf das Gebäude abgefeuert. Die meisten dort noch verbliebenen Personen haben das Gebäude nach den Schüssen hastig verlassen, um in Hotels Zuflucht zu suchen. Zu den Bewohnern gehörten vor allem japanische Geschäftsleute sowie asiatische und afrikanische Diplomaten. Etwa 20 Appartements sind von den Schüssen getroffen worden sein. Ein an der Spitze des Militärkonvois fahrender Offizier hatte zuvor über Megaphon befohlen, Fenster und Balkone zu meiden. Am Montag hatte die Gebäudeverwaltung die Bewohner davon in Kenntnis gesetzt, daß die Truppen den Befehl hätten, zu schießen, falls sie Kameras oder Ferngläser sehen sollten.

Ein anderer Konvoi eröffnete das Feuer auf Passanten, als er an dem „Peking International Hotel“ vorbeigezogen war. Vier Menschen wurden getroffen. An der Jian-Guo-Men-Brücke, in unmittelbarer Nähe zum Diplomatenviertel, kam es gestern vormittag zu einem zehnminütigen Schußwechsel - weshalb, warum blieb unklar, doch fuhren gepanzerte Fahrzeuge während der Schüsse Richtung Westen. Das Manövrieren geht weiter.

David Holley/Dan Southerland/smo