Großer Bahnhof für Totalverweigerer

■ Mit großem Jubel empfingen gestern am Bahnhof Zoo rund 300 Pazifisten den 50.000. Kriegsdienstflüchtling in Berlin / Totalverweigerer Heiko Streck aus Hamburg kam nach Berlin, um einer zehnmonatigen Haftstrafe ohne Bewährung zu entgehen

Großes Empfangsspektakel gestern vormittag am Bahnhof Zoo: „Wir begrüßen den 50.000. Kriegsdienstflüchtling.“ Unter diesem Motto hatten sich rund 300 Pazifisten und Passanten in der Bahnhofsvorhalle eingefunden, um dem Jubiläumsgast die ihm gebührende Ehre zu erweisen. Weniger die runde Zahl denn seine Situation als Totalverweigerer hatte Heiko Streck aus Hamburg in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses gerückt.

Nachdem Streck wegen seiner Entscheidung, seinen begonnenen Zivildienst nicht zu beenden, zu zehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt worden war, hatte er sich zur Flucht nach Berlin entschlossen. Hier ist seine Situation jedoch ebenfalls ungeklärt, da der Senat offiziell dazu verpflichtet ist, Berliner zur Wehrpflicht auszuliefern, wenn ein Einberufungsbescheid vorliegt. Ganz im Gegensatz zum alten CDU-Senat, der Abschiebungen zwecks Wahrung des entmilitarisierten Status der Stadt stillschweigend aus dem Weg gegangen war, hat sich Justizsenatorin Jutta Limbach generell für eine Abschiebung ausgesprochen. Ihre Begründung: die Wahrung der Rechtseinheit mit der BRD. „Der Senat befindet sich hier in einer prekären Situation“, so Streck vor der Presse. Jetzt komme es darauf an, zu sehen, was mit ihm passiere. Schließlich sei er Mitglied der GAL und könne sich schlecht vorstellen, daß seine Kollegen von der AL eine Abschiebung mit verantworten würden. Daß sich Heiko Streck dazu entschlossen hatte, in Berlin Unterschlupf zu suchen, war dem „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ und der Kirchentagskampagne, die Veranstalter der Aktion, denn auch einen prunkvollen Empfang wert.

Vom Fanfarenbläser in olivgrün unüberhörbar angekündigt, stolzierte der Gefeierte - bewaffnet nur mit einem überdimensionalen Blumenstrauß und dem obligatorischen Reiseköfferchen - gemächlichen Schrittes die Treppe herab. Mit enthusiastischen Jubelrufen begrüßte die endlich von ihrer Warterei befreite Menge den Kriegsdienstverweigerer. Fähnchen mit dem Berliner Bären, der ein zerbrochenes Gewehr hält, wurden geschwungen. Nur schwerlich konnte sich der konsequente Antimilitarist seinen Weg durch die bewegte Menschenmenge zum Ausgang Jebensstraße bahnen, wo das sogenannte Berliner „Papamobil für alternative Staatsempfänge“ bereit stand. Dort parkte auch ein Wohnwagen als Gastgeschenk.

Jeder hatte daran gedacht, doch keiner es erwartet: Bevor sich Streck und seine pazifistische Fangemeinde per Demonstrationszug in Bewegung setzen konnten, mokierte sich die Polizei über das blumenbekränzte Papamobil samt Wohnwagen und beschlagnahmte letzteren kurzerhand wegen angeblicher Gefahr für die Verkehrssicherheit. Da halfen auch nicht die friedlichen Worte aus dem Mund von Pfarrer Heinrich Gollwitzer, um dem Volkszorn über solche Phantasielosigkeit der Beamten Einhalt zu gebieten. Nach einigem Hin und Her beschlossen die Veranstalter schließlich, auf Strecks neue Behausung zu verzichten. Der Totalverweigerer kletterte samt „Asylkoffer“ und Blumenstrauß in die alternative Staatskarosse mit dem glasumrahmten Loch im Autodach, und ab ging die Post in Richtung Charlottenburger Kammergericht am Witzlebenplatz. In schnellem Schrittempo marschierte der pazifistische Demonstrationszug hinterdrein, begleitet, wie für einen Staatsempfang üblich, von einer Motorradeskorte. Vorneweg trugen die Veranstalter die „raketenzerstörende Goldelse“, ein vier Meter hohes Siegessäulenimitat. Auf dem Kudamm schwoll die Zahl der Antimilitaristen zeitweise auf rund 1.000 an.

Große Feierstunde dann am Witzlebenplatz: Unter großem Beifall sprachen die amerikanischen Gebrüder Bergensen über ihre Aktionen und Knasterlebnisse in den USA. Beide sind wegen ihrer Aktionen und Anschläge gegen die Rüstungsindustrie sowie ihrer pazifistischen Einstellung berühmt. Auch der Zukunftsforscher Robert Jungk kam auf der aufgebauten Bühne zu Wort und rief zu Aktionen vor den rund 100 Berliner Betrieben auf, in denen für die Rüstungsindustrie gearbeitet wird.

Hilde Schramm sowie die Charlottenburger Bürgermeisterin Monika Wissel gedachten dagegen der 500 Menschen, die zwischen 1936 und 1943 im damaligen Reichskriegsgericht, dem heutigen Kammergericht, wegen ihrer pazifistischen Haltung zum Tode verurteilt worden waren. Aus diesem Anlaß enthüllte die Bürgermeisterin zusammen mit Streck wenig später vor bewußtem Gericht eine provisorische Gedenktafel. „Es ist typisch für unsere Geschichte, daß noch niemand an eine Gedenktafel für diese 500 Opfer gedacht hat“, kommentierte Schramm das bisherige Fehlen eines solchen Mahnmals.

Christine Berger