Das Ende der Internationale

Das Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking zersplittert den „Ostblock“  ■ K O M M E N T A R E

Weit im Osten, unter dem verhüllten Bild Maos und einer gipsernen Göttin der Demokratie, hat die Glasnost-Ära ihr Ungarn 1956, ihr Prag 1968 gefunden. Der Anblick einer „Volksbefreiungsarmee“, die ihre Gewehre nicht nur auf eine unbewaffnete Menschenkette anlegt, sondern dann auch abdrückt, ist zum Lackmustest für die (Nicht-) Existenz eines sozialistischen Lagers geworden. Genau einhundert Jahre, nachdem sich in Paris die Zweite Internationale zusammenfand, und genau siebzig Jahre nach der Gründung der Dritten Internationale haben die Reaktionen der sozialistischen Staaten auf die Massaker des Tiananmen endgültig gezeigt, daß es keine Internationale mehr gibt, noch nicht mal mehr in gedoppelter oder verdreifachter Version. Der „Ostblock“ ist - von Marienborn bis Wladiwostok - in Blocksplitter zerfallen, die sich selbst mit nationalstaatlichen Grenzen selten decken und deren Zahl erst durch die grausamen Greise in der Verbotenen Stadt sichtbar geworden ist.

Auch wenn es schon des längeren keine einheitliche ideologische und innenpolitische Haltung in den sozialistischen Staaten mehr gab, so wahrten sie - wie jede Familie - den guten Schein. Nach außen rauften sich Schwester- und Bruderparteien stets zusammen. In internationalen Gremien wurde, wenn es um Kambodscha, Mittelamerika, Afghanistan ging, eine mehr oder weniger geschlossene Außenpolitik vorgeführt. Damit ist es seit Sonntag vorbei: Es gibt keine innere Geschlossenheit in außenpolitischen Fragen mehr. Die Internationale spiegelt sich in den Pekinger Ereignissen als Regenbogenfraktion wieder - schillernd vom kalten Blau stalinistischer Verbohrung bis zum warmen Rot der Empörung.

Die Brüche in der Bewegung laufen zackig wie Fieberkurven. An den Kiosken des Prenzlauer Berg verdammen 'Junge Welt‘ und 'Neues Deutschland‘ einen als „konterrevolutionär“ enttarnten Aufstand, während im benachbarten Wedding die sonst so treue 'Wahrheit‘ der SEW von einem „Massaker in Peking“ spricht und Nicaraguas Innenminister es im Charlottenburger Audimax noch für verfrüht hält, sich eine Meinung zu bilden. Fidel Castro seinerseits brauchte keine Bedenkzeit, um den „Tod von 1.000 Soldaten“ zu beklagen, verursacht durch „antisozialistische Elemente“. Ungarns Parteichef Grosz erklärt, daß Dengs Methoden „nichts mit Sozialismus“ zu tun haben, und in Polen gehen 2.000 Menschen aus Trauer auf die Straße, zum gleichen Zeitpunkt, als die Stasi der chinesischen Botschaft in Ost-Berlin brüderliche Hilfe leistet und 120 Demonstranten abführt.

Zwar ist der Protest aus Ungarn, Polen, Jugoslawien und von den europäischen Kommunisten den Machthabern in Peking so wichtig, als wenn „in Schanghai ein Sack Reis umfällt“. Aber darum geht es nicht. Die Mannigfaltigkeit der Reaktionen ist ein Indikator für Stand und Stillstand der jeweiligen Reformbewegungen. Die DDR-Führung muß gerade jetzt, wo ihre Bürger zaghaft und mutig für eine Wahlrechtsreform eintreten, eine chinesische Politik unterstützen, die wirtschaftliche nicht an politische Reformen bindet. Die verqueren Rechtfertigungsversuche der offiziellen Reaktionen gegenüber den Lesern der 'Jungen Welt‘, dem Zentralorgan der FDJ, deuten daraufhin, daß diese Linie - angesichts der Fernsehbilder aus Peking - besonders den Jugendlichen in der DDR nur schwer vermittelbar ist. Ungarns Regierung hat 1956 die Erfahrung gemacht, daß sich mit Tanks keine gesellschaftlichen Konflikte auf Dauer stillstellen lassen. Gorbatschow steht, wieder einmal, in der Mitte. Die 'Prawda‘ vollführt einen rhetorischen Eiertanz, wenn sie zwar sachlich berichtet, aber „Verständnis“ für den Militäreinsatz gegen Studenten äußert, eine Entscheidung, die „das Gewissen belastet“. Gorbatschow möchte die Verständigung, die er gerade eben mit Peking hergestellt hat (und die für seine Politik in Kambodscha und Vietnam notwendig ist), nicht riskieren. Aber hinter dem Schweigen der KPdSU steckt noch etwas anderes: Die Partei ist ebensowenig wie die Gesamtheit der sozialistischen Parteien, in der Lage, mit einer Stimme zu sprechen. Jede Verurteilung eines Militäreinsatzes gegen eine demokratische Massenbewegung hätte die Hardliner in der eigenen Partei dazu gebracht, ebenfalls das Wort zu ergreifen. Gorbatschow kann sich aber eine öffentliche Diskussion über die Frage „Was tun, wenn die Moskauer sich zu wochenlangen Hungerstreiks in Massen auf dem Roten Platz niederlassen?“ zum jetzigen Zeitpunkt nicht erlauben. Noch gibt es genügend Kräfte in der KPdSU, die aus dem blutigen Sonntag in Peking die Schlußfolgerung zu ziehen verstehen, zuviel demokratische Versprechungen lockten nur die Leute auf die Straße.

Polen und Ungarn haben - das zeigen ihre Reaktionen - die entgegengesetzte Konsequenz gezogen: Ohne die Entwicklung einer Zivilgesellschaft und einer politischen Beteiligung können die ökonomischen Irrationalitäten von Korruption bis Verschwendung niemals beseitigt werden. Sie haben - so ist zu hoffen - ihre Option gewählt für den Fall, daß Austeritätspolitik und Deregulierung die Arbeits- und Ideologielosen auf die Plätze treibt. Doch auch die andere, die bedrückende Frage muß gestellt werden: Wie entscheiden die revolutionären Greise der DDR, wenn die erste „Göttin der Demokratie“ auf dem Marx-Engels-Forum aufgestellt wird?

Alexander Smoltczyk