Sklavenmarkt im Hunsrück

■ Tausende ukrainische und russische Kinder und Jugendliche wurden von den Nazis verschleppt und auf deutschen Märkten als billige Arbeitskräfte verkauft

In Petrosawodsk, der Hauptstadt der karelischen SSR, lerne ich bei einem offiziellen Treffen einen Schriftsteller namens Oleg Tichonos kennen. Während des sehr lebhaften, zweistündigen Round-table-Gesprächs über den Großen Vaterländischen Krieg und die deutsch-sowjetischen Beziehungen schwieg der rund 50jährige, und doch fühlte ich seinen Blick auf mir ruhen, einen seltsam verschatteten, verlorenen und zugleich bohrenden Blick, der mit unwillkürlich das Gefühl gab, auf dem Prüfstand zu stehen.

Nach dem offiziellen Treffens kommt Tichonow zu mir und sagt auf Russisch, er spreche zwar kein Deutsch, doch verstehe er die deutsche Sprache recht gut. Auch er sei nämlich schon einmal in Deutschland gewesen. „Wann?“ frage ich ihn. „Im Jahr einundvierzig!“ „Wie denn?“ frage ich überrascht, „da waren Sie doch noch ein Kind!“ Tichonow hebt beide Hände und biegt von den zehn gespreizten Fingern den kleinen Finger nach unten. „Neun Jahre alt?“ Er nickt.

Oleg Tichonow stammt aus der Ukraine. Kurz nach der Okkupation seines Heimatdorfes durch die deutschen Truppen wurde der damals neunjährige Junge zusammen mit seiner Mutter zu einer Sammelstelle getrieben, in einen offenen Viehwaggon verladen und ins Deutsche Reich verschleppt. Während des wochenlangen Transportes starben viele der Deportierten den Hunger-, andere den Kältetod. Der Transport endete in Simmern, einer Kleinstadt im Hunsrück. Zusammen mit anderen zwangsverschleppten Russen wurden Oleg und seine Mutter unter strenger Bewachung auf dem Marktplatz ausgestellt. Er trug ein Pappschild mit der Aufschrift „5 RM“ um den Hals, seine Mutter wurde für 25 Reichsmark feilgeboten. Er wurde von einem deutschen Gutsbesitzer, sie von einem Fabrikanten gekauft.

Vier Jahre lang hat der halbwüchsige ukrainische Junge, zusammen mit russischen, polnischen, tschechischen und französischen Zwangsarbeitern, auf einem Gutshof in der Nähe von Simmern gearbeitet - von fünf Uhr früh bis zehn Uhr abends. Er lebte von seiner Mutter getrennt in einer Barracke. Nur dreimal durfte er sie in den vier Jahren bis Kriegsende besuchen. Damals habe er zwar gelernt, die deutsche Sprache zu verstehen, doch gesprochen habe er sie nicht. Er konnte und wollte die Sprache seiner Feinde und Sklavenhalter nicht sprechen. Sein Schicksal war keine Ausnahme und kein Extremfall. Er kenne, sagt Tichonow, einige Männer seines Alters, die als Kinder von den Nazis verschleppt worden sind.

Ich bin nach meiner Rückkehr in die Bundesrepublik der Sache nachgegangen und fand heraus, daß Tausende von ukrainischen und russischen Kindern und Jugendlichen ins Deutsche Reich verschleppt worden sind. So heißt es in einem Aktenstück des Rosenberg-Ministeriums vom 12.Juni 1944: „Die Heeresgruppe Mitte hat die Absicht, (...) 40.000 bis 50.000 Jugendliche im Alter von zehn bis vierzehn zu erfassen und ins Reich zu bringen. (...) Von seiten des deutschen Handwerks wird diese Aktion äußerst begrüßt, da man hierin eine entscheidende Maßnahme zur Behebung des Mangels an Lehrkräften sieht.“ Diese Kinderverschleppung trug den zynischen Decknamen „Heuaktion“ und wurde von der Heeresgruppe Ukraine-Nord unter Feldmarschall Walter Model ausgeführt.

Bekanntlich wurden die meisten „Ostarbeiter“ den deutschen Unternehmen, Rüstungsfabriken und Gutshöfen vom Reichssicherheitshauptamt beziehungweise von der SS „zugewiesen„; weshalb die deutschen Sklavenhalter und Sklavenhalterfirmen nach dem Kriege auch behauptet haben, sie seien vom Reich und der SS zur Einstellung von Ost- und Zwangsarbeitern „förmlich gezwungen“ worden, um die hochgesteckten Produktionsziele zu erreichen. Nie dagegen hat man hierzulande vernommen, daß verschleppte Russen wie auf dem antiken Sklavenmarkt, auf öffentlichen Plätzen und deutschen Marktflecken feilgeboten und von Privatpersonen gegen eine einmalige, lächerlich geringe Kaufsumme erworben wurden; wozu kein Staat und keine Behörde die Aufkäufer zwingen konnte.

Ende 1944 wurde das Dorf bei Simmern von den Amerikanern befreit. Doch erst im Oktober 1945 wurde Tichonow in seine Heimat zurückgeschickt. Viele seiner Kameraden sind nach ihrer „Repatriierung“ in der UdSSR erst einmal in die sogenannten „Filterlager“ geschickt worden, weil die stalinistische Bürokratie sie als potentielle Kollaboranten und Spione verdächtigte. Auch Tichonow bekam in seiner Heimat zu spüren, daß er Zwangsarbeiter im Deutschen Reich gewesen war. Noch als er sich in den fünfziger Jahren an einer sowjetischen Hochschule um einen Studienplatz für Journalistik bewarb, wurde er trotz guter Zeugnisse und bester Empfehlungen nicht zugelassen.

Michael Schneider