Rückzugsgefecht

■ Trotz aller Störmanöver ist die Perestroika auf Kurs

Auch wenn die Reformen nicht zu radikal ausfallen dürfen und das Machtmonopol der Partei nicht zur Debatte steht, bleibt die Perestroika auf Kurs. Das wichtigste Ergebnis des Volksdeputiertenkongresses ist, daß sich erstmals die Konturen einer neuen „sozialischen Gesetzlichkeit“ abzeichnen. Die Fundamente einer reformierten Gesellschaft sind gelegt. Die Gewalten werden geteilt. Der Kongreß der Volksdeputierten ist oberstes Organ des Staates und bestimmt die großen Richtlinien der Politik, der aus seinen Reihen gewählte Oberste Sowjet wird zum ständig tagenden Parlament. Die Parteigremien haben an Macht eingebüßt.

Heute können sich die Konservativen in der Parteiführung zwar noch auf eine Mehrheit in beiden Gremien stützen. Sie können weiterhin, wie Donnerstag abend, die Öffentlichkeit ausschließen lassen, wenn es um die machtpolitische Wurst geht. Sie können einen Generalstaatsanwalt Sucharew in diesem Amt bestätigen, der die Spuren der Korruption und Ämterpatronage, die bis zu Jegor Ligatschow reichen, verwischen möchte. Und sie können jubeln, wenn einer der Verantwortlichen des Massakers in Tiflis, Generaloberst Rodionow jede Schuld von sich weist. Sie können sogar Andrej Sacharow wegen seiner Kritik am sowjetischen Engagement in Afghanistan schmähen. Die Politisierung jedoch, die über den Kongreß möglich war, als Millionen Sowjetbürger an der Glotze und den Radios hingen, nur um die neuesten Debatten nicht zu versäumen, wird die Reformer trösten. Und so haben diejenigen recht, die jetzt behaupten, daß die Periode der „Reform von oben“ zu Ende ist. Denn dies wurde jeden Tag deutlicher. Je öffentlicher das manupulative Verhalten der Konservativen wird, desto mehr wird „von unten“ Druck gemacht.

Das wird in Zukunft um so schwerer wiegen, als mit der Reform des Wahlsystems zunächst in den Republiken die Wählermeinung sich stärker niederschlagen wird als im alten System. Wenn Gorbatschows Rolle sich auch geändert hat und das Staatsoberhaupt den politischen Ausgleich sucht, indem er sich sogar manchmal offen auf die Seite der Konservativen schlägt, an den Zielen der Perestroika hat er bisher eisern festgehalten. Und das bedeutet für die Konservativen das ständige Rückzugsgefecht.

Erich Rathfelder