„Bewaffnete Volkspolizei“ übernimmt das Kommando

In Peking herrscht der Terror / Panzer haben die chinesische Hauptstadt verlassen / Massenverhaftungen versetzen die Bevölkerung in Angst und Schrecken Mit TV-Propaganda legitimiert die Führung die Repression der Studentenproteste / Schwarze Listen mit Namen von „Konterrevolutionären“  ■  Aus Peking Georg Blume

Auf der Changan-Chaussee marschieren die Soldaten. Doch niemand schaut ihnen zu. Hinter ihren Reihen, verdeckt unter Bäumen, geschieht lautlos, was alle beobachten. Dort geht ein einfacher Mann. Er trägt ein kleines Bündel auf seinem Rücken. Das aber scheint schwer zu wiegen, denn der Mann geht in gebeugter Haltung. Oder gibt es andere Gründe, die ihn nicht aufschauen lassen? Der Mann trägt einen Schnurrbart, sein Hemd ist nicht zugeknöpft. Viel ist ja aus der Ferne, vom anderen Straßenrand, nicht zu erkennen. Und dennoch schauen ihm Hunderte von Augen nach, weil alle wissen, wohin der Weg dieses Mannes führt. Oder weil niemand das weiß: Der Mann mit dem Bündel und dem Schnurrbart wird abgeführt. Vier Volkspolizisten begleiten ihn.

In einer kleinen Häuserblockpassage Pekings, dort, wo an gewöhnlichen Tagen kein Auto fährt und die Leute vom Fahrrad absteigen, weil Gemüseberge den Weg versperren, dort fährt an diesem Samstag abend ein kleiner, grüner Jeep. Langsam bewegt sich die Karosse, stoppt und rollt langsam wieder an. Die Windschutzscheiben sind beschmutzt. Auf wen richten sich die Augen der Wachhabenden? Wen sucht die Volkspolizei? Anwohner und Passanten verhalten sich ruhig, blicken nicht auf. Gleichgültig wiegt der Obsthändler seine Melonen. Vorbei die Zeiten der Anklage und des Protests.

Der Terror regiert Peking. Wer ihm nicht auf der Straße begegnet, dem kommt er übers Fernsehen ins Haus. In Handschellen gekettet sitzt der TV-Gefangene vor der kalten Knastmauer. Vier Volkspolizisten bitten zum Verhör. Oder: Zehn Häftlinge werden vorgeführt. In geordneter Reihe müssen sie vor den Volkspolizisten in die Knie gehen. Von 400 Festgenommenen berichtet das Fernsehen. „Unruhestifter“ werden Chinas Vogelfreie jetzt genannt. Sie hätten Soldaten getötet, Banken ausgeraubt und Busse in Brand gesteckt. Die Führer der Studentenbewegung werden aufgefordert, sich den Behörden freiwillig zu stellen. Unklar bleibt, wie die in den letzten Jahren langsam reformierte chinesische Justiz unter dem Kriegsrecht funktioniert. Vermutlich gar nicht.

Propaganda ertränkt das Recht. Material gibt es genug. Ein verkohlter Soldat, für den ein brennender Bus zum Marterpfahl wurde, zeichnet das Bild der unkontrollierten Volksgewalt. Es sind wahrlich grausame Aufnahmen, die der Staat heute zu seinen Zwecken nutzen kann. Damit die Grausamkeit kein Ende nimmt. In der vergangenen Woche sprach das Staatsrecht gegen zwei des Bankraubs während der Tumulte Angeklagte schnell vollstreckte Todesurteile. Wieviele solcher Urteile werden wohl jetzt gesprochen werden?

Nur ein einziger kurzer Satz ließ auf Gnade hoffen. „Dieser Störfall ist unabhängig vom menschlichen Willen“, sagte Deng am Freitag vor seinen Generälen. Was genau ist unter dieser geheimnisvollen Formel, die der Herrscher seiner Rede vorausschickte, zu verstehen? Hatte er soweit nicht gehen wollen? Noch weiß niemand zu sagen, ob Deng bewußt die Strategie des Terrors verfolgte oder nur dem Reflex der Gewalt erlag.

Denn was geschah mit jenen Panzern, die verbrannten, ohne daß Soldaten sie verteidigten? Warum schickte man vor dem nächtlichen Sturm ausgerechnet die jüngsten Marschierer auf den Tiananmen, ohne daran glauben zu können, daß sie dort jemals ankommen würden? Möglicherweise war es ein geplantes Spiel, dessen TV-Aufzeichnung die späteren Repressionen rechtfertigen sollte. Oder war die Armee tatsächlich hilflos im Umgang mit den Demonstranten? Ist der Schußbefehl, der zum Blutbad führte, erst in derselben Nacht unter dem Eindruck der Demütigungen vom Tage gefällt worden?

Schon gibt sich Peking den Anschein, einen gewöhnlichen Sonntag zu verleben. Die Parks haben erstmals wieder geöffnet. Familien suchen die Ruhe im Grünen. Die Ordnung ist wiederhergestellt. Verschwunden sind verbrannte Fahrzeuge, verbogene Gitter, aufgewühlte Steine. Schon darf sich der Volkssoldat wieder an die Mauer lehnen, statt, wie in den letzten Tagen, stramm zu stehen. Zeichen dafür, daß die Armee ihre Aufgabe erfüllt hat.

Endlose Truppenkonvois waren am Freitag und Samstag vom Tiananmen Richtung Westen gerollt. Schon am Freitag morgen hatte die Siegeszeremonie auf dem Platz des Himmlischen Friedens der militärischen Aktion in Peking ein Ende gesetzt. Was zu tun bleibt, ist die Arbeit anderer. „Bewaffnete Volkspolizei“ nennt sich die paramilitärische Truppe unter dem Kommando von Sicherheitschef Qiao Shi, die inzwischen das Kommando über Peking übernommen hat. Mit 500.000 Mann reicht ihre Stärke an die der Bundeswehr heran. Nicht zufällig gilt Qiao Shi als aussichtsreicher Kandidat für das Amt des Regierungschefs, vorausgesetzt, der amtierende Premier Li Peng steigt zum Generalsekretär der Partei auf. Mit Qiao Shi und seiner Volkspolizei vertrauen die Obersten einer sicheren Kraft.

Was immer an den Gerüchten über Auseinandersetzungen innerhalb der Armee richtig oder falsch ist, auf die Volkspolizei treffen sie nicht zu. Ihre Wurzeln reichen nicht auf rivalisierende Truppenverbände der Roten Armee während des Zweiten Weltkrieges und des Chinesischen Bürgerkrieges zurück. Sie litt in ungleich geringerem Maße unter den Reformbemühungen eines Zhao Ziyang. Auch fehlt ihr der Mythos von der Volksbefreiung. Nicht ohne Grund ziehen die Regierenden heute die Polizei der Armee vor.

Studentenführer Quo Haifeng ist verhaftet worden. Andere Mitglieder der autonomen Studenten- und Arbeiterverbände, die in den vergangenen Wochen gegründet wurden, befinden sich in der Hand der Polizei. „Schwarze Listen“ mit den Namen der „Konterrevolutionäre“ sind aufgestellt. Die politische Begleitmusik lieferte Pekings Bürgermeister Chen Xitong, der zur sofortigen Wiederaufnahme der Arbeit aufrief, um, wie er sagte, die „Verluste der konterrevolutionären Rebellion zu beseitigen“. Chen: „Wo immer es Leute gibt, die randalieren, schlagen und verbrennen, werden wir die Diktatur des Proletariats gegen sie ausüben.“