Schweden-Kur gegen Blechlawinen

Nur mit einer Monatskarte der städtischen Verkehrsbetriebe soll das Autofahren in Stockholm noch erlaubt sein  ■  Aus Stockholm Gisela Pettersson

Ab und zu hat Birgitta einen Traum. Den von einer Stadt ohne chromblitzende Vehikel, ohne Abgase, Geflitze und Gehupe. Birgitta selbst hat nie ein benzinfressendes Etwas besessen, auch Mann und Kinder zeigten bisher keine Gelüste. Ins Büro bringt sie jeden Tag das Gespann Fahrrad und Nahverkehrszug. Birgitta heißt mit Nachnamen Dahl und waltet als Schwedens Umweltministerin. Daß die Stockholmer Kommunalpolitiker mit einer Mautgebühr die Lust der Automobilisten auf etwas Rumgekurve in der Innenstadt sabotieren wollen, findet Frau Minister „vollkommen in Ordnung“.

Ab Herbst 1990 spätestens sollen nur jene zwischen sechs und 18 Uhr ins Herz der schwedischen Metropole vordringen dürfen, die hinter der Windschutzscheibe eine Monatskarte der städtischen Verkehrsbetriebe kleben haben. Mit dieser Schweden-Kur will man dem Überdruck des Stockholmer Verkehrsaufkommens - 25 Prozent Steigerung in den letzten fünf Jahren - die Luft nehmen. Die Aktion „Raus aus dem Auto - hoffentlich rein in den Kollektivverkehr“ beschert zudem dem Stadtsäckel rund 350 Millionen Kronen, satte 100 Millionen Mark. Geld, das im besten Recycling-Verständnis in den Ausbau des Bus-, U-Bahn- und Zugnetzes fließt.

300 Kronen - rund 90 Mark - sollen die morgens und abends im Stau auf den Straßen rings um Stockholm Sitzenden für das Kärtchen berappen. Was sie sich dafür einhandeln: Erlösung aus ihrem Blechlawinen-Dasein, wenn sie Lockung und sanftem Druck nachgeben und auf den Nahverkehr umsteigen. Stockholms Innenstadt, eine der wenigen Hauptstädte, in der man mittendrin herrliche Lachse fangen oder sich schwimmend in sauberen Fluten fortbewegen kann, könnte aufatmen.

Das mit den 300 Kronen halten viele für zu hoch. Unter den Kritikern ist auch der Stockholmer DGB. Denn die normale Monatskarte der städtischen Verkehrsbetriebe kostet nur 200 Kronen, also 30 Mark weniger. Eine Extragebühr für die Autofahrer - so argumentiert der Gewerkschaftsdachverband könnte als Extraanrecht mißverstanden werden, jetzt erst recht das Auto zu benutzen. Dies nach dem Motto: „Wenn ich schon mehr bezahle, will ich auch was davon haben.“ Stockholms Umwelt- und Verkehrsdezernent Ingemar Josefsson stößt ins gleiche Horn. Der quirlige und beharrliche Politiker, der mit fast schon krimineller Energie unter anderem den Bau des neuen Stockholmer Wahrzeichens, des Sportpalastes „Globen“, betrieb, hält 300 Kronen für unlogisch.

Gerade aus Singapur zurückgekehrt, wo er studierte, wie dort Umweltabgaben für Autofahrer gehandhabt werden, favorisiert er Zeitbeschränkungen auch nur an Vormittagen von sechs bis elf Uhr und nicht bis 18 Uhr abends. Die Idee schließlich, in einigen Jahren elektronisch kontrollierbare Aufkleber und Tagesgebühren von zirka 25 Kronen (rund acht Mark) einzuführen, hält er für einen Rohrkrepierer. Obwohl Experten ausgerechnet haben, daß eine Tagesgebühr satte 25 Prozent weniger Autos in der Innenstadt bedeuten würde - die Koppelung mit der Monatskarte soll drei bis vier Prozent Entlastung bringen - warnt Josefsson vor dem Moloch Bürokratie. „Wenn wir das zu perfekt organisieren, verschwinden vielleicht 100 von den 350 Millionen Kronen Gebühreneinnahmen durch Ausgaben für Überwachungspersonal, Administration, Bau von Kontrollstationen.“ Singapur zeige, daß es manuell am besten funktioniere.

Statt dessen setzt Josefsson auf saftige „Knollen“. Wer ohne Monatskarte an der Scheibe erwischt wird, soll 500 Kronen (rund 160 Mark) blechen, bei Mehrfachtätern soll schlicht und ergreifend der Führerschein eingezogen werden („Machen wir's den Schweden nach!“ d.S.).

Abgesehen von dem Geplänkel über Gebührenhöhe und Zeitbeschränkungen gibt es keine gravierenden Widerstände gegen den Stockholmer Vorstoß. Bis auf die Moderaten, die schwedische CDU, ziehen alle Parteien an einem Strang, um den „größten umweltpolitischen Entschluß in unserer Geschichte“ durchzuziehen. Bauernpartei, Sozialdemokraten, Kommunisten und Grüne im Stadtparlament liegen dabei auf der gleichen Wellenlänge mit den meisten SchwedInnen. In der bisher größten Meinungsumfrage zur Umweltpolitik sagten nämlich Anfang April immerhin 88 Prozent, daß sie der Umwelt zuliebe bereit seien, ihren materiellen Lebensstandard zu senken. 51 Prozent erklärten klipp und klar, daß sie aufs Auto in Innenstädten verzichten wollen.

Zu diesen 51 Prozent gehört allerdings nicht der „Motormännens Riksförbund“, so etwas wie der schwedische ADAC. Der warnte davor, daß eine Mautgebühr nur die erste Strophe des Liedes über die finanzielle Daumenschraube für Autofahrer sei. Ablehnung kam auch von der Handwerkskammer. Die befürchtet, daß sich durch die Umweltgebühr für die Einwohner Stockholms Dienstleistungspreise drastisch erhöhen könnten. „Wie soll ein Glaser oder Schreibmaschinenreparateur, der Werkzeuge und Material transportieren muß, noch seinen Job ausführen?“ Schließlich könnten die nicht mit der U-Bahn rumkutschieren. Argumente, die eine mögliche Gebührenbefreiung für bestimmte Berufsgruppen andeuten. Für Busse, Einsatzfahrzeuge und Autos von Behinderten ist das heute schon beschlossene Sache.

Bevor die Stockholmer ihr Paradepferd in Sachen Umweltschutz satteln können, muß der Reichstag erst noch das Startsignal geben und ein Rahmengesetz über Abgaben für Autofahrer beschließen. Inklusive Anhörungsverfahren dauert eine Gesetzgebungsprozedur in Schweden normalerweise fünf Monate. Die Spatzen auf dem Dach des zuständigen Verkehrsministeriums pfeifen allerdings schon eifrig die Melodie: „Es kann auch schneller gehen.“ Schließlich steht die Umwelt auf dem Spiel. Und da muß schnelles und unbürokratisches Handeln drin sein.

Einen Vorgeschmack darauf bekommen die SchwedInnen schon im Sommer serviert: Auf dem Straßennetz rund um die Großstädte Stockholm und Malmö wird die generell in Schweden bestehende Geschwindigkeitsbegrenzung von 110 Stundenkilometern permanent auf 90 gesenkt. Der Umwelt und der Verkehrssicherheit zuliebe.