Seh'n oder Nichtseh'n

■ NDR-Talkshow am Freitag: Die Wutz ist los, sie ist noch immer los

Die schwitzigen Stinkeonkels und Quietschetanten, von denen wir uns als Kinder auf jeder Familienfeier abküssen lassen mußten - im NDR-Talkstudio hocken sie ungeniert beisammen. Und ihr Gepruste und Gegröle erinnert an jene Kaffee -Mariacron-Nachmittage, an denen die Erwachsenen regelmäßig sagten: „Kinder, geht spielen, das ist nichts für euch.“ Doch was sich damals als Alptraum hinter verschlossenen Türen tat, darf in der NDR-Talkshow schamlos als öffentlich -rechtliche Unterhaltungssendung auferstehen: dirigiert von einem Wanst, der aus dem Anzug platzt und Hermann Schreiber heißt, von einem Roßgebiß, das einem geschnöselten Gesicht entfährt und sich Lutz Wolfgramm nennt, und von einer Jeansjacke über burgunderroter Lederhose, die Margarethe Schreinemakers gerufen wird.

Wenn sich diese Troika über erwachsene Gäste hermacht, sie inquisitorisch nach politischer Haltung fragt und andauernd nach Anzüglichkeiten schnüffelt, ist Mitleid mit den Gästen nicht am Platz: Sie passen da rein wie Vetter und Cousine. Aber welcher Sadist hat diesen drei Figuren Katja Studt, dies rotzig-süße Mädelchen aus „Wilder Westen inclusive“, zum Fraße vorgeworfen? In niederträchtigem Kreuzverhör machen sich die Würgebengel der NDR-Talkshow über das Mädchen her: „Wie stehst denn du politisch zu den Kernkraftgegnern? Verstehst du überhaupt, worum es in deinem neuen Film geht? Würdest du auch jemanden entführen? Wie bist du denn zu Hause?“ - „Normal“, antwortet die tapfere Katja Studt, und schon wenden sich die feigen Reißwölfe „Miko“ zu, der Rock-Sängerin, die früher mal bei Trost gewesen ist, sich nun aber „Priesterin der Isis“ nennt und Gott sucht.

„Die Welt hat Liebeskummer“, findet sie, und röhrt, „ganzheitlich“ musizierend, dagegen an mit tempeltänzerisch -rudernden Bewegungen. „Außerordentlich beeindruckt“ ist sie vom Ministerpräsidenten Albrecht, weil der sich „im letzten Drittel seines Lebens mit dem Tod beschäftigen will.“ Also ist klar, daß „Miko“ zwar über den Dingen, politisch aber im richtigen Lager steht. Nur Goldfechterin Anja Fichtel will nicht so recht politische Farbe bekennen, „weil sowas immer falsch verstanden wird“. Doch Schreiber - „dann sag‘ ich's mal“ - klärt alle auf: „Sie will in die CDU“.

Ob Schwarz, Rot oder Senf fällt nur bei Angela Hoffmann nicht ins Gewicht: Die „Lui„-Aktmodell und „Lui„-Erotik -Lyrikerin bietet sich den verschwitzten Blaugesichtern als Objekt zum Gröl-Prust-Wieher-Finale dar. Die „Lui„-Fotos werden vor der Kamera genüßlich aufgeblättert, „ohne hoffentlich voyeuristisch zu wirken“, keckert das Roßgebiß „pppppprrrrrrr“ macht das ganze Studio. „Was bedeutet für dich Sex?“ will „Miko“ wissen. „Höööhööööh“ grölt es im Koben. „Und was empfindest du so bei der Sexualität?“ Da kennt die Quiekerei kein Halten mehr: Taschentücher werden hervorgeholt, die puterroten Gesichter abgewischt - und ich geh‘ spielen.

Sybille Simon-Zülch