Erstes „Nein“ als Beginn der Psychiatrie-Revolution

■ Gesundheitsbehörde präsentierte zum Psychiatrietag eine Zwischenbilanz der Bremer Reformen / Bundesweit an führender Stelle

Mit der Psychiatrie läßt sich in Bremen Staat machen. Die Reform an Haupt und Gliedern nimmt insbesondere nach der endgültigen Auflösung der Oldenburger Klinik Kloster Blankenburg Konturen an und weist dem Stadtstaat Bremen bei der Umsetzung gemeindenaher psychiatrischer Versorgung einen führenden Platz in der Bundesrepublik zu. So gab es denn viel Schulterklopfen, als am Freitag die Gesundheitssenatorin Vera Rüdiger und ihr Psychiatriereferent Gert Schöfer der Presse die Zwischenergebnisse der Reform vorstellten.

Überraschend, so stimmten die MitarbeiterInnen verschiedener Tagesstätten und Wohngruppen überein, sei die weitgehend problemlose Eingewöhnung der ehemaligen Blankenburg-PatientInnen vor sich gegangen. Menschen, die mit gravierenden Hospitalismus-Erscheinungen nach Bremen zurückgekehrt seien, die jahre- bis jahrzehntelang unter Lebensbedingungen „verwahrt“ worden sind, die ihnen keinerlei Selbständigkeit ermöglicht haben - denen sei die „Rückkehr aus dem Vergessen“ schon an der Lebendigkeit ihres Gesichtes abzulesen.

Die neuen BewohnerInnen des Innere-Missions-Hauses in der Bremer Goebenstraße sind zum größten Teil ehemalige BlankenburgerInnen, gerade ein halbes Jahr in der neuen Umgebung. Daß sie nun ein eigenes Zimmer, einen eigenen Schrank besitzen, sich

Mobiliar und Kleidung selber aussuchen können - das war für einige das erste Mal im ganzen Leben. Petra Gromann, die Bereichsleiterin für die psycho-sozialen Dienste bei der Inneren Mission, hat eine „verblüffende Veränderung“ bei den Patienten festgestellt. Sie sei sehr überrascht gewesen,„wie viel an eigenen Fähigkeiten nach so langen Jahren hinter Anstaltsmauern selbst bei den schwer psychisch Erkrankten vorhanden gewesen ist.“ So ist der Lärm und das Leben, die Einmischung und der Streit, die wir auch in der Tagesstätte an der Parkstraße vorfinden, für Petra Gromann das beste Zeichen, daß die Anstaltslethargie langsam überwunden ist und nur selten noch Ängste vor der neu gewonnenen Selbständigkeit auftreten. „Das erste Nein“ der PatientInnen, erzählt sie, „das war die große Revolution.“ Eine Einschätzung über den Entwicklungsprozeß der geistig -behinderten und psychiatrischen PatientInnen, die auch die anderen Träger der gemeindenahen Versorgung teilen.

Eine bundesweite Reform der Psychiatrie, das machte Gesundheitssenatorin Rüdiger deutlich, steht nach zwanzig Jahren der politischen Debatte um die gesellschaftliche Funktion der Psychiatrie immer noch aus. Der Bundesregierung warf sie vor, die notwendige Gesetzgebung zur leistungsrechtlichen Gleichstellung psychisch und körperlich Kranker verhindert zu haben. Das Ge

sundheitsreformgesetz, so assistierte ihr der Leiter der Psychiatrie am Krankenhaus Bremen-Ost, Peter Kruckenberg, sei eher ein „Psychiatrie-Reform-Verhinderungs-Gesetz“. Nach wie vor würden Einrichtungen und Dienste, die ihre Bedeutung für psychisch Kranke längst unter Beweis gestellt hätten, nicht finanziert.

So sei auch das arme Bremen bei der Enthospitalisierung der Psychiatriepatienten und der aufzubauenden ambulanten und gemeindenahen Versorgung auf kleine Schritte angewiesen und die finanzkräftigen „Wohlstandskonzerne“, die bei den nicht unerheblichen investiven Ausgaben für die Errichtung der drei regionalen Versorgungszentren in Vorlage gegangen sind. Gegenwärtig steht für jedes der Zentren das gleiche Spektrum von Einrichtungen zur Verfügung: eine Beratungsstelle des Sozialpsychiatrischen Dienstes, eine Ta

gesstätte, Heime und Einrichtungen des betreuten Wohnens, Arbeitsangebote in Kleinwerkstätten und eine gesonderte stationäre Einheit in der Psychiatrie des Krankenhauses Bremen-Ost. Für die beiden noch zu schaffenden Zentren in West und Nord sei, so Vera Rüdiger, durchaus vorstellbar, daß nicht die großen freien Träger zum Zuge kommen, sondern „andere Akzentuierungen bevorzugt werden“. Gemeint war damit ein für den Bremer Westen bereits vorliegender Gemeinschaftsantrag der „Initiative zur sozialen Rehabilitation“ und der Bremer Werkgemeinschaft, die damit unter Beweis stellen möchten, daß auch für schwere psychiatrische Fälle mit größerem Hilfebedarf und höherer Betreuungsintensität ein Wohnkonzept jenseits der Krankenhaus-Langzeitpsychiatrie möglich ist.

Daß der „nicht abgeschlossene Reformprozeß, der unbedingt fortgeführt werden muß“ (Rüdi

ger), auch nach wie vor mit externen Schwierigkeiten konfrontiert wird, berichteten die MitarbeiterInnen des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SPsD) Mitte. Zunehmende materielle Nöte und soziale Krisen führten, wie der Krankenpfleger Rolf Schröder erzählte, zu einer abnehmenden Toleranz der Bevölkerung. „Manche Stadtteile halten es weniger aus, mit den Ausgerasteten umzugehen.“ So werde der SPsD vermehrt in dem Sinne verstanden, „für Ruhe zu sorgen“. Auch gebe es noch immer einige niedergelassene Ärzte, die in ihm nichts anderes als ein Instrument sehen,„unbequeme Leute vom Halse zu schaffen“. - „Die Krisenrennerei hat zugenommen“, bestätigte die Psychologin Christa Schulte, „die Langzeitbetreuung abgenommen.“

Über die Perspektive der bremischen Psychiatriereform waren sich die herbei geholten Fachleute trotz mancher Verbal-At

tacken weitgehend einig. Auf Dauer seien alle Langzeitbetten in der Psychiatrie abzubauen, die Versorgung ambulant und dezentral zu gewährleisten. Ein strittiger Punkt wird dabei vor allem das Projekt „Fichtenhof“ sein. Von der Sozialbehörde als 120 Personen Altenheim im Bremer Norden geplant, vermuten viele dahinter ein neues Blankenburg. Als altenpsychiatrisches Heim war es im ursprünglichen Konzept ausgewiesen. Da sei die Sozialbehörde mit dem Begriff Gerontopsychiatrie schlampig umgegangen, sagt Psychiatriereferent Schöfer. Geplant sei ein normales Altersheim. „Schlimm, was da gemacht wird“, behaupten viele MitarbeiterInnen in der psychiatrischen Versorgung. Die Zukunft der Reform und die Euphorie der Beteiligten wird wohl ganz wesentlich davon abhängen, ob mit dem Fichtenhof tatsächlich ein neuer Ort der Ausgesonderten entsteht.

Andreas Hoetzel