Paris, Sommer 1939

■ Die „Pariser Tageszeitung“, eine deutsche Exil-Zeitung, berichtet aus dem Vorkrieg

Maria Kühn-Ludewig „Sommer des Mißvergnügens“

Der Juli ist kalt und verregnet, im August bedrohen Kometenschweife in dichter Folge den Erdball (1064), zu Wasser und zu Lande irren Flüchtlinge aus Mitteleuropa umher, vor denen sich ein Staat nach dem anderen verschließt - im August auch das ferne Shanghai (1072, 1074, 1078) -, während Diplomaten und Korrespondenten zähen Bündnisverhandlungen in Berchtesgaden, Rom und Moskau etwas abzugewinnen suchen - schließen Japan oder Spanien sich der „Achse“ an? Wird es endlich zu einer englisch-französisch -sowjetischen „Friedensfront“ kommen? - und die täglichen Nachrichten vom Krisenpunkt Freie Stadt Danzig hartnäckig die Frage stellen: Bringt der September ein neues München oder den Krieg? „Furcht vor den Sommerferien“

Aber auch in diesem Jahr bedeutet der Sommer für viele Ferien, Tourismus, Weltausstellung in New York, Musikfestspiele in Luzern (contra Salzburg), Tour de France (ohne Deutschland und Italien) und für Journalisten manche Saure-Gurken-Tage. Der im Frühjahr 1939 angelaufenen Aufrüstung in Frankreich und Großbritannien haben die ArbeiterInnen der entsprechenden Industriebetriebe einerseits eine Verbesserung des Arbeitsmarkts zu danken („fast Vollbeschäftigung“, 1073), aber zugleich Urlaubsbeschränkungen. Für eine starke Minderheit der englischen Abgeordneten und ihren Wortführer Churchill ist die übliche Sitzungspause, in die Chamberlain das Parlament Anfang August bis 3.Oktober schickt, angesichts der angespannten Lage nicht akzeptabel; Churchills Antrag, sich nur bis zu einer Sondersitzung am 21.8. zu vertragen, lehnt Chamberlain ab, muß aber tatsächlich bei Bekanntwerden des Hitler-Stalin-Paktes das Parlament für den 24.8. einberufen. In Frankreich werden vor der Sommerpause zwar noch keine Notstandsgesetze, aber immerhin „Dekrete des 'Weißen Krieges'“ (1061) verabschiedet, zu denen auch die vorsorgliche Verlängerung der laufenden Wahlperiode um zwei Jahre gehört. „Wieder 700, die nicht

landen können“

Worüber die 'Pariser Tageszeitung‘ in diesen Wochen nicht unbedingt auf der ersten Seite, aber kontinuierlich und detailliert berichtet, ist die Situation der Hitler -Flüchtlinge in Europa und anderen Weltgegenden. Immer wieder werden Schiffe ohne Landeerlaubnis gemeldet: vor Istanbul, vor Ceylon, vor Ägypten. Palästina, das Ziel vieler Juden aus Deutschland und Österreich, aber auch aus der Tschechoslowakei, Polen und Rumänien, bleibt 1939 für zahllose Flüchtlinge eine Fata Morgana, denn die britische „Weißbuch„-Politik hat die Einwanderungsquote erheblich gesenkt (1054). Selbst das relativ einwanderungsfreundliche Australien schließt in seiner Ansiedelungsplanung Juden aus (1052) und erläßt im August gegen jüdische Ärzte eine definitive Einreisesperre mit Rücksicht auf die Patientenzahlen der australischen Ärzte (1072). Nach der Schließung Shanghais, ebenfalls im August, dürfen nur noch die Schiffe, die bereits dorthin unterwegs sind, mit den Flüchtlingen landen; die Schiffahrtsgesellschaften werden verpflichtet, keine Juden mehr nach Shanghai zu befördern. Vor englischen und französischen Gerichten finden „Fluchthelfer“ für illegale Einwanderung, meist Matrosen, Kapitäne oder Fischer, nicht selten harte Richter: Strafen von mehrmonatiger Zwangsarbeit werden mehr als einmal gemeldet (z.B. 1055, S.5). Reportagen aus Camps für „Legale“ wie Merksplas in Belgien (1042), Chelles bei Paris (1046, 1070) und Kitchener in Kent (1059) oder Berichte von Umschulungen wirken vergleichsweise idyllisch: ein zwar bescheidenes, aber gesichertes Leben. Fahrkarten, Visa und Arbeitspapiere - das sind auch die Brennpunkte vieler Anzeigen und der wöchentlichen „Briefkästen“ (Antworten der Redaktion auf Leserbriefe); nicht allen kann mit dem Angebot „Heirat in die Schweiz“ (1086) geholfen werden. Den weniger Glücklichen bietet die 'Pariser Tageszeitung‘ in diesem Sommer die Serie „Wohin auswandern?“ mit sachlich bis optimistischen Artikeln verschiedener AutorInnen aus Neuseeland (1037, 1039), Shanghai (1046), Neu-Kaledonien (1056), Australien (1085) und zusätzliche Erfahrungsberichte aus Brasilien (1063, 1065) und den USA (1069); Europa ist eng geworden. Die Zeitung zitiert am 21.7. aus einem Leitartikel des 'Daily Telegraph‘, daß angesichts von 120.000 bis 140.000 Flüchtlingen, die 1938 aus Deutschland gekommen seien, sich die Aufnahmekapazität der „vollentwickelten Länder Europas“ erschöpft habe und nur die Ansiedlung „in einem etwas neueren Land“ einen Ausweg bieten könne. Entsprechend groß ist die Hoffnung, die viele Flüchtlinge auf Roosevelt setzen, als dieser im Juli zu einer internationalen Folgekonferenz des Treffens von Evian (1938) für Oktober ins Weiße Haus einlädt (1052, 1057). Auch bescheidenere Initiativen als diese werden durch den Kriegsbeginn durchkreuzt: So soll in England im September ein Gewerkschaftskongreß über bessere Arbeitsmöglichkeiten für Emigranten beraten (1073), und mit einem Siedlungsprojekt für Österreicher könnte im Juni 1940 in Abessinien begonnen werden (1074)!

Das durch Hitlers Politik verursachte weltweite Flüchtlingsproblem erscheint der 'Pariser Tageszeitung‘ demnach zwar gewaltig, aber nicht prinzipiell unlösbar. Auch die Berichte von verzweifelten Einzelschicksalen, von Selbstmordfällen und bürokratischer Härte (1066-69: Frau Langer in New York; 1073, 1083: Frau Kellermann in Belgien) widersprechen dem nicht: Für viele Flüchtlinge kommt bereits jede Hilfe zu spät, aber mehr Einsicht und Initiative in den Aufnahmeländern kann und wird solche Tragödien verhindern. Eine Zukunftsperspektive, die auf praktische Vernunft setzt und ihre Entschiedenheit immer wieder aus dem Kontrastbild Deutschland gewinnt, wie es sich in der täglichen Rubrik „Aus dem Reich“ - meist auf Seite eins - präsentiert. „Goethe wäre in Deutschland

im Gefängnis oder Emigrant“

In der Kraftprobe um Danzig, das heißt um ein Erbstück aus dem Versailler Vertrag, das die politische Szene dieses Sommers bestimmt, wird die Konfrontation Deutschlands gegenüber den Westmächten aus dem Ersten Weltkrieg lebendig, nicht nur in den Reden, Feiern und Artikeln zum Jahrestag des Kriegsbeginns, dem 1.August 1914 (1061). Dem deutschen Anspruch, nach Österreich, der Tschechoslowakei und dem Memelland jetzt auch die dem Völkerbund unterstellte Freie Stadt Danzig ins Reich „heimzuholen“, stehen Großbritannien und Frankreich als Garantiemächte für Polen entgegen: Das international isolierte Deutschland, dessen Politik sich auf Gewalt nach innen und außen gründet, auf Unrecht und Lüge, maßt sich in Verblendung und Selbstüberschätzung an, einen Krieg gegen die wetslichen Demokratien zu riskieren; dies Bild entsteht in Schlagzeilen, Pressezitaten und zahlreichen Einzelmeldungen „aus dem Reich“. Moral und Rechtsstaatlichkeit sind im Westen zuhause, wie es etwa die Respektierung von Kriegsdienstverweigerern beweist, für deren Anerkennung Großbritannien nach der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im April 1939 eigene Kammern einrichtet: “... in Deutschland würde solche Rechtssprechung höchstens verlacht“ (1065). Sondergesetze gegen „IRA -Terroristen“, die das englische Parlament unter dem Eindruck mehrerer Bombenattentate Ende Juli im Eilverfahren beschließt, beeinträchtigen das Wunschbild von Demokratie und Freiheit nicht, zumal die englische Wochenzeitung 'Cavalcade‘ die Enthüllung mitliefert: „Die Nazis als Geldgeber der IRA“ (1066). Kritisiert wird vielmehr vorsichtig und mit Rückendeckung englischer Pressezitate ('Times‘) etwas anderes: Die Auslieferung von vier chinesischen Häftlingen in Tientsin aus englischer Haft an die von Japan kontrollierten Lokalbehörden (1063, 1072 f., 1095). Dieser Schritt bedeute die Anerkennung des illegalen japanischen Regimes in Tientsin und zudem einen Verstoß gegen die Habeas-corpus-Akte! Die - unausgesprochene Identifizierung deutscher EmigrantInnen, die sich 1939 selbst nur zu sehr auf die Großmut ihrer Gastländer angewiesen wissen, mit hilflosen Häftlingen in Fernost schärft hier für bedrohliche Konsequenzen opportunistischer Regierungsentscheidungen den Blick, der sonst oft von vorbehaltloser Loyalität getrübt erscheint; man kann die Sensibilität auch als Weitblick verstehen, denkt man an den Auslieferungsparagraphen im deutsch-französischen Waffenstillstandsabkommen von 1940. Andererseits gibt es auch im deutschen „Reich der Finsternis“ Lichtblicke: so etwa eine Niemöller-Feier in Berlin-Lichterfelde mit einer Beteiligung von 70 Pastoren (1038) oder heimlich plakatierte Lyrik wie diese: „Wir wollen keinen Führer von Gottes Gnaden, / wir wollen keinen Hitler aus Berchtesgaden, / wir wollen keinen Dreck mehr fressen, / wir wollen wie Herr Göring essen!“ (1076), vor allem aber die vielfältigen Widerstandsformen, mit denen die Tschechen gegen die deutsche Besatzung opponieren, auch als „Ghandi-Methode“ (1117) bezeichnet.

Insgesamt aber dominiert in der Berichterstattung des Vorkriegs der Kontrast - wen wundert's -, etwa nach dem Schema „Raubbau an der deutschen Wirtschaft“, „Konjunktur in Frankreich“ (1041). Die 'Pariser Tageszeitung‘ steht damit nicht allein. Einige spektakuläre Fälle deutscher Spionage und Propaganda beschäftigen im Frühsommer 1939 besonders die englische und französische Öffentlichkeit, so in Frankreich die Affäre, die im Juli mit der Ausweisung von Otto Abetz (1903-1958) endet, dem regen Mitarbeiter der „Dienststelle Ribbentrop“ und deutschen Botschafter 1940 bis 1944 im Vichy -Frankreich (1043, 1049, 1054, 1071). Um dem Eindruck entgegenzutreten, man sei Herrn Goebbels‘ Propagandakunst nicht gewachsen, schaffen daher Ende Juli die Regierungen in London und Paris (1060, 1061) eigens neue Ämter für Informationspolitik, die sich mit Abwiegelungsparolen wie „Sterben für Danzig?“ auseinanderzusetzen und im „weißen Radiokrieg“ (z.B. 1073) um deutsche Hörer und Frequenzen zu behaupten haben. Ab 1.August heißt das auch: Jean Giraudoux contra Joseph Goebbels, ins Kontrastschema übersetzt: Wahrheit contra Lüge, Kultur contra „Bluff“. Keine Frage, wo der Standort der 'Pariser Tageszeitung‘ ist beziehungsweise der Standort, den die Zeitungen ihren LeserInnen zur Orientierung und Identifikation, als eine Art Heimatersatz in der Fremde, immer wieder anbietet. Nicht nur kommentierend, sondern auch praktisch: So hat sie Anfang Juli eine Friedensbotschaft des „National Council Of Labour“ an das deutsche Volk erst in Übersetzung veröffentlicht (1037) und drei Tage später die vervielfältigte Beilage den Lesern zum Versand nach Deutschland empfohlen und sich damit demonstrativ die Position der englischen Arbeiterorganisationen zu eigen gemacht. Adressat ist eine erhoffte (schweigende) Mehrheit, jedenfalls das vermutete 'Das andere Deutschland‘.

Um dieses führen Mitte Juli bis Mitte August vor allem französische Journalisten und Politiker eine Diskussion, die die 'Pariser Tageszeitung‘ sorgfältig dokumentiert: Repräsentiert Hitler den „furchtbaren Dynamismus, der schicksalhaft Deutschland in ein Herrschaftsinstrument umformt“ und dem deshalb nur mit Gewalt zu begegnen ist (H. de Kerillis) oder gibt es auch ein demokratisches Deutschland, „das sich verbirgt und sich sucht“ (Leon Blum), das es zu ermutigen gilt? Wenn es jetzt wieder durch Deutschland zu einem Weltkrieg kommt, was ist dann aus den Erfahrungen 1914 bis 1918 und aus den Wirkungen des Versailler Vertrags für die Behandlung eines besiegten Deutschlands zu lernen? Es gibt darüber keine Einigung. In Politikerzitaten in den Wochen nach dem 1.September heißt es wiederholt: „Wir haben keinen Streit mit dem deutschen Volk, aber Hitler beziehungsweise der Nazismus muß aus der Welt!“ Die einzige selbstkritische Äußerung im Rückblick auf Versailles findet sich in einem 'Times'-Leserbrief ('PTz‘ 1104, 17.9.) des englischen Friedensnobelpreisträgers (1933) Norman Angell (1874-1967), der meint, der Krieg werde umso länger dauern, je erfolgreicher Hitler die Deutschen davon überzeugen könne, daß ihnen bei einem Sieg der Westmächte „ein noch schlimmeres Versailles“ drohe; das Ziel müsse vor allem eine bessere, gerechtere Friedensordnung als die von 1919 sein.

Trotz ihrer unablässigen, oft lästigen Warnungen vor Hitlers Kriegsabsichten wird die deutsche Emigration zumindest in der französischen Deutschland-Diskussion so gut wie nicht beachtet und ihr kaum das Recht zugebilligt, nicht mit Hitler verwechselt werden zu wollen; auch sie steht unter dem Verdacht, die kritische Beurteilung des Versailler Vertrages sei Gegnern und Befürwortern Hitlers schließlich gemeinsam (A. Stibio in 'L'Ordre‘). Wie anders klingt dagegen wenige Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs - als „Post aus der Moderne“ - ein Dokument aus der französischen Revolution „vom 26.August des Jahres IV der Freiheit“, abgedruckt unter dem Titel Deutsche werden Franzosen (1085)! Es geht dabei um ein Dekret über die Einbürgerung von Ausländern, darunter des deutschen Dichters F.G. Klopstock (1724-1803). „Von der Krise zum Krieg“ (1091)

oder „Was wir seit Jahren...“

Die Hoffnung vieler deutscher EmigrantInnen seit 1933, im Gastland als Gegner und Opfer des Nationalsozialismus akzeptiert zu werden und sich wirtschaftlich, sozial und politisch integrieren zu können, hat sich bis 1939 für die Mehrheit nicht erfüllt. Mit dem für die Öffentlichkeit überraschenden deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23.8. („Heil Moskau“, 1084, 1086) ist das langwierig verhandelte Gegenprojekt eines englisch-französisch -sowjetischen Bündnisses, eine Art Hoffnungsträger für LeserInnen der 'Pariser Tageszeitung‘ im Vorkrieg, endgültig gescheitert, eine Wende der amerikanischen Neutralitätspolitik noch nicht in Sicht. Nichts kann Hitler, kann den deutschen Überfall auf Polen am 1.September mehr aufhalten. Nach letzten erfolglosen Vermittlungsversuchen in den Tagen danach erklären England und Frankreich am 3.September Deutschland den Krieg.

Wenn Churchill bei diesem Anlaß im Unterhaus von Freiheiten spricht, „die um des Krieges willen vorübergehend geopfert werden müssen“ (1083), dann hat dies für die Emigranten einen besonderen Klang. Über Nacht sind sie von immerhin tolerierten Flüchtlingen zu „enemy aliens“ geworden oder gar zu Schmarotzern, die mit „unerfreulicher Euphorie“ den Krieg begrüßen, den Engländer und Franzosen für sie führen sollen (z.B. 1090). Nur die tschechischen Emigranten bleiben vom Feindverdacht verschont, während Deutsche und Österreicher, ob jüdischer Herkunft oder nicht, ob ausgebürgert oder nicht, der für Ausländer verfügten Internierung zu folgen haben. (Dies betrifft auch die 'PTz'-Redaktion und die Zeitung kann ab 4.9. nur noch in einer zudem von Zensur beschränkten zweiseitigen Notausgabe erscheinen.)

Aber selbst die bittere Erfahrung von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Internierung mindert nicht die Schärfe des Kontrastes zwischen Deutschland, „wo alles Haß ist“ (E.E. Noth, 1124 f.), und dem „Land der Freiheit“ (Goethe/Rolland, 1105). Es bleibt die Gewißheit, daß Hitler „allein gegenüber einer Welt von Feinden“ nicht auf Dauer siegreich bleiben könne (1097), zumal sein Werk „von Grund auf verderbt“ sei (G. Duhamel, 1112; A. Duff Cooper, 1113), und die verzweifelte Hoffnung - trotz allem - auf Unzufriedenheit (z.B. 1099), auf Desertion (z.B. 1100), auf Widerstand (1095, 1102), auf immer mehr „Gleichgesinnte im Reich“ (1089), auf ein endlich doch noch erwachendes anderes Deutschland.