Massenpanik unter Meßcheten

■ Lage in Usbekistan weiterhin gespannt / Rund 400 „Extremisten“ versuchten, Flüchtlinsglager zu überfallen / Meßcheten um Hauptstadt Taschkent fürchten um ihr Leben / Behörden schweigen

Moskau (dpa/ap/afp/taz) - In der zentralasiatischen Republik Usbekistan bleibt die Lage weiterhin gespannt. „Um vor Ort Fragen einer Normalisierung zu klären“, reisten gestern Ministerpräsident Ryschkow und der Präsident der Rechtskommission des Obersten Sowjets Tschebrikow in die Krisenregion. Bei den pogromartigen Unruhen in den vergangenen zehn Tagen, die sich vor allem auf das Gebiet um die Städte Fergana und Kokand konzentrierten, waren mehr als 100 Angehörige der türkischstämmigen Minderheit der Meßcheten ermordet worden.

Ein provisorisches Flüchtlingslager nahe der Stadt Kokand, berichtete gestern die sowjetische Parteizeitung 'Prawda‘, sei von „350 bis 400 Extremisten“ überfallen worden. In dem Lager waren rund 2.000 Meßcheten untergebracht. Unter dem Einsatz mehrerer Hubschrauber und Schußwaffen sei es den militärischen Sondereinheiten gelungen, die mit Maschinenpistolen bewaffneten Angreifer zurückzutreiben. Bei der heftigen Schießerei seien zwei der Angreifer getötet und fünf weitere verletzt worden. Das Flüchtlingslager wurde daraufhin aufgelöst und die Flüchtlinge in andere Gebiete der Sowjetunion ausgeflogen.

'Prawda‘ zufolge ist unter den 50.000 Meßcheten der usbekischen Hauptstadt Taschkent und in Syrdaria inzwischen eine „Massenpanik“ ausgebrochen. Vor allem Frauen und Kinder hätten sich bereits vorsichtshalber in Flüchtlingslagern in Sicherheit gebracht. Aus Angst vor Überfällen ruhe in vielen landwirtschaftlichen Betrieben die Arbeit.

Ein Sprecher der meßchetischen Minderheit forderte am Sonntag im sowjetischen Fernsehen die Evakuierung seiner Volksgruppe, „an welchen Punkt Rußlands auch immer, nur nicht nach Zentralasien“. Die ursprünglich im Südwesten der Republik Georgien ansässigen Meßcheten waren 1944 von Stalin zwangsumgesiedelt worden. Die Regierungszeitung 'Iswestija‘ berichtete gestern ausführlich über die Lebensumstände in dem gegenwärtig größten Flüchtlingslager bei Fergana. Die rund 14.500 MeßchetInnen müßten unter „bedauernswerten sanitären Bedingungen“ leben. Frauen schliefen auf dem Boden, aus den städtischen Krankenhäusern seien Kranke aus Furcht um ihr Leben in größter Eile geflüchtet. Sie würden nun in einem provisorisch eingerichteten Feldlazarett behandelt.

Über die Ursachen der Unruhen schwiegen sich gestern die sowjetischen Behörden aus. Vertreter des usbekischen Außenministeriums in Taschkent lehnten auf mehrfache Anfragen jede Stellungnahme ab. Die 'Prawda‘ hatte, wie berichtet, eine „korrupte, gut organisierte mafiaartige Gruppe“ verantwortlich gemacht.

bim