Ein unerbitterlicher Kritiker

Der Astrophysiker Fang Lizhi, geistiger Führer der chinesischen Demokratiebewegung, hat sich in die amerikanische Botschaft geflüchtet / Die chinesische Regierung will ihn als „Konterrevolutionär“ verurteilen  ■ P O R T R A I T

Seit gestern wird er mit Haftbefehl von den chinesischen Behörden gesucht. Sein Verbrechen - er fordert seit Jahren unerbittlich Demokratie für das Reich der Mitte. Sein Aufenthaltsort ist die US-Botschaft mitten in Peking. Der Astrophysiker Fang Lizhi (53) gilt als der geistige Führer der chinesischen Demokratiebewegung. Viele bezeichnen ihn auch als chinesischen Sacharow.

Fang war ein Wunderkind. Der Sohn eines Bahnarbeiters kam mit drei Jahren in die Schule und promovierte mit 20 Jahren im Fach theoretische Physik in Peking. Er war der jüngste Professor Chinas und später sogar Mitglied der Akademie für Wissenschaften. Doch Mao Zedongs Kampagne gegen die „Rechte“ stellte ihn schon 1957 an den Pranger. Er wurde als Rechtsabweichler verbannt und erst 1978 wieder rehabilitiert. An Chinas größter technischer Hochschule in Hefei setzte er seine Karriere nach der Kulturrevolution fort und wurde bald stellvertretender Rektor.

Doch auch hier nahm das KP-Mitglied Fang Lizhi kein Blatt vor den Mund. Als Vizedirektor der Eliteuniversität wies er darauf hin, daß es die Pflicht eines Naturwissenschaftlers sei, in gesellschaftliche Prozesse einzugreifen und gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen. Er wollte den „westlichen Geist“ übernehmen. Im Parteiorgan 'Volkszeitung‘ schrieb der Physiker, der Marxismus tauge als Leitwissenschaft für China nicht mehr. Der Sozialismus in China sei ein einziger Fehlschlag gewesen.

Die Studentenunruhen im Jahre 1986 nahmen an der Universität in Hefei ihren Anfang. Für die Parteiführung war das kein Zufall. In ihren Augen hatte Fang die Studenten aufgehetzt. Als der damalige Parteichef Hu Yaobang gestützt wurde, bestand Deng Xiaoping persönlich darauf, Fang aus der KP hinauszuwerfen. Mit Ausreisesperre belegt, wurde Fang ans Pekinger Observatorium strafversetzt. Als er doch auf eine wissenschaftliche Tagung nach Triest reiste, formulierte er in einem 'Spiegel'-Interview eine Generalabrechnung mit der Kommunistischen Partei Chinas und dem Marxismus. „Der Marxismus ist eine Sache der Vergangenheit“, sagte er. „Er ist nützlich zum Verständnis der Probleme des letzten Jahrhunderts.“ In China sei er ein totales Fiasko gewesen.

Fang forderte ein Ende der Herrschaft der alten Garde in China, trat für Menschenrechte und ein Mehrparteiensystem ein. „Nur in Haiti und Kambodscha gibt die Regierung weniger für Intellektuelle aus“, meinte er bei anderer Gelegenheit.

Ende Februar rückte Fang ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit, als er von US-Seite zum Abschlußbankett des Peking-Besuchs von US-Präsident George Bush eingeladen wurde. Dieser Schritt erregte das Mißfallen der chinesischen Führung, die mit ihrem profiliertesten Kritiker nicht den Raum teilen wollte. Chinesische Polizei verhinderte sein Erscheinen und sorgte bereits damals für Irritationen in den Beziehungen zwischen Washington und Peking.

Im Frühjahr dieses Jahres gehörte Fang zu den Unterzeichnern eines offenen Briefes an Deng Xiaoping. Darin wird aus Anlaß des 200. Jahrestages der Französischen Revolution und des 40. Geburtstages der Volksrepublik China eine Amnestie für politische Gefangene und die Freilassung des Dissidenten Wei Jingsheng gefordert, der 1979 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Fang Lizhi soll ganz oben auf der schwarzen Liste stehen, die seit der Verhängung des Kriegsrechts in Peking kursiert. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz flüchtete er mit seiner Frau unter dramatischen Umständen in die US-Botschaft in Peking. Aufgrund der Vorwürfe der chinesischen Behörden droht ihm die Todesstrafe.

Jürgen Kremb