Wenn in Tianjin die „Doppelschutztruppe“ ausrückt

In der drittgrößten Stadt Chinas werden die Arbeiter in Selbstverteidigungskräften und Schutztruppen zwangsorganisiert, um die „Konterrevolution“ aufzuhalten  ■  Aus Tianjin Th.Reichenbach

Alle Städte Chinas, in denen die Demokratiebewegung Fuß fassen konnte, sind seit Dengs Auftritt vom vergangenen Freitag auffallend darum bemüht, mit harter Hand alle Proteste rasch niederzuschlagen. Der Bürgermeister von Schanghai, Jiang Zeming, bot am gleichen Abend der Regierung seine volle Unterstützung bei der Niederschlagung der Konterrevolution an. Li Ruihuan, Stadtoberhaupt von Tianjin, der drittgrößten Stadt Chinas, präsentierte kurz darauf sein eigenes Repressionskonzept. Loyalitätstelegramme aus ganz China beglückwünschen die Regierung zu ihrem entschlossenen Vorgehen.

Hinter den Huldigungen verbirgt sich allerdings nicht nur Unterwürfigkeit oder die Tradition, die Fahne nach dem Wind zu hängen. Es geht der Stadtregierung vor allem auch darum, eine Einmischung der Zentralregierung abzuwenden und den eigenen Machtbereich zu verteidigen. Bei einer Verhängung des Ausnahmezustands würde die Stadt nämlich der direkten Kontrolle Pekings unterworfen, was nicht im Interesse der lokalen Führungselite liegt. Also gilt es, den „Aufrührern“ kurzen Prozeß zu machen, bevor die Zentralregierung eingreift. In Tianjin ist der wichtigste Baustein im Unterdrückungskonzept die Zwangsorganisation großer Teile der arbeitenden Bevölkerung in „Selbstverteidigungskräften“, „Werkschutztruppen“ und der „Doppelschutztruppe“ (schützt Tianjin, schützt das Volk). Mit der „Selbstverteidigung“ verteidigt sich Tianjins Stadtregierung nicht nur gegen die ohnehin zerschlagene demokratische Bewegung, sondern auch gegen die Bevormundung Pekings. Die Zwangseinberufung zur „Doppelschutztruppe“ erfaßt alle Fabriken und die Stadtverwaltung. Die Aufgaben bestehen im Werkschutz, der Bespitzelung der Betriebsmitarbeiter und deren Familien sowie in Hilfsdiensten im polizeilichen Bereich: Beschlagnahme von Propagandamaterial, Abreißen von Wandzeitungen, Überwachung der Schul- und Universitätstore, Verhaftungen von „Störern“.

In einem Interview mit der taz berichtet die Leiterin einer Produktionsgruppe der Tianjiner Schuhfabrik über die Situation in den Betrieben: „Bei uns sind etwa 100 Männer von den Vorgesetzten zur 'Doppelschutztruppe‘ verpflichtet worden. Zwei Schichten stehen sie mit roten Armbinden vor dem Haupttor und allen Eingängen der Werksgebäude. Wer das Werksgelände betritt, muß seinen Ausweis vorzeigen und sich registrieren lassen. Manchmal muß die 'Doppelschutztruppe‘ auch einen 'Sicherheitsauftrag‘ außerhalb des Betriebes ausführen, dann rückt sie mit Stahlhelm und elektrisch geladenen Schlagstöcken geschlossen aus.“

Wer die Teilnahme an der Zwangsorganisation verweigert, muß mit Lohnkürzung und einer Meldung an die Parteizelle rechnen. Zur Mittagspause übertragen Lautsprecher in den Werkskantinen Regierungspropaganda. Es wird betont, wie gefährlich die Konterrevolutionäre seien. Die Gruppenleiterin berichtet weiter: „Es heißt, wenn die Konterrevolution nach Tianjin kommt, haben wir bald nichts mehr zu essen. Dem Leitungspersonal wird auf 'patriotischen Sitzungen‘ die Leitlinien der Regierung eingeschärft. Im Grunde genommen stehen wir Arbeiter auf der Seite unserer Kinder, auf den Sitzungen hören wir nur stumm dem Parteisekretär zu. Aber es traut sich auch niemand mehr, etwas dagegen zu sagen. Alle haben Angst um sich und ihre Familien.“

Nachts sind in Tianjin bis in die Morgenstunden hinein die Sirenen der Polizeifahrzeuge zu hören, jeden Tag berichten die Zeitungen in Erfolgsmeldungen über die neuesten Verhaftungen. Je weiter das Pekinger Massaker vom 4.Juni zurückliegt, desto dreister lügt die Presse schwarz und weiß. Die gestrige Ausgabe der Tianjiner Abendzeitung veröffentlichte „Augenzeugenberichte“, denen zufolge in jener Nacht auf dem Tiananmen von den Soldaten gar nicht geschossen worden ist.

„Doppelschutztruppen“ verhafteten heute zehn Mitglieder der verbotenen „Tianjiner patriotischen Arbeitervereinigung“, einem Gegenstück zur „Pekinger autonomen Arbeitervereinigung“. Hier ist niemand mehr sicher, der auch nur einmal kritisch aufgefallen ist.