Deutsch-sowjetische Wirtschaftsbeziehungen im Aufwind?

 ■  Von Jürgen Schulz

„Lieber versänken wir im Staub, als den Kapitalisten politische Konzessionen zu machen“, donnerte Nikita Chruschtschow 1964. „Ich kann allen versichern, die Handel an politische Zugeständnisse binden: Sie werden eher von Würmern zerfressen sein, als daß wir vor ihnen kriechen.“

Michail Gorbatschow, zu Besuch in der Bundesrepublik, braucht solche Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Sowjetunion nicht zu befürchten. Er hat das Riesenreich im Osten aus freien Stücken in Bewegung gebracht. Die ökonomische Misere der UdSSR machte es nötig, und die kapitalistische BRD soll ihn dabei nach Kräften unterstützen.

„Was Gorbatschow jetzt konkret von Bonn will, weiß man noch nicht“, meint zwar auch UdSSR-Experte Ulrich Weißenburger vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in West-Berlin. Sicher scheint indes, daß es bei Gorbatschows Visite nicht um einen neuen Kredit gehen wird, denn die drei Milliarden Mark, die bundesdeutsche Banken 1988 ihrem sozialistischen Geschäftspartner eingeräumt haben, wurden gerade in jüngster Vergangenheit ausgeschöpft - trotz des aktuten Devisenmangels der SU. „Das liegt in erster Linie an der Schwerfälligkeit des Staatsaparates in der Sowjetunion“, mutmaßt Weißenburger.

Man kann sich in der UdSSR schlichtweg nicht entscheiden, wo dringender Investitionsbedarf besteht. Noch immer sperren sich einzelne Branchenministerien - im Zeitalter der Perestroika eigentlich Anachronismen - gegen Gorbatschows Medizin. In den Hinterköpfen vieler Traditionalisten spukt noch immer Stalins Vision von einer wirtschaftlich autarken Heimat. Auch an anderen Eckpfeilern der real existierenden Planwirtschaft versuchte sich der große Reformator bislang vergeblich: Die vollständige Rechnungslegung der Staatsbetriebe stagniert ebenso wie die gesetzlich angeordnete Selbsverwaltung in Teilen der Landwirtschaft.

Leidtragende dieser Entwicklung ist zweifellos die Zivilbevölkerung, deren Versorgungslage sich inzwischen sogar verschlechtert. Weil aber Perestroika zuerst durch den Magen gehen muß, um den Kopf zu erreichen, dient Gorbatschows Besuch hauptsächlich diesem Problem. Das gemeine Volk - geplagt vom Alkohol-Bannstrahl des KPdSU -Generalsekretärs - will Taten sehen!

Ulrich Weißenburger vom DIW ist sicher, daß Gorbatschow „vor allem an Investitionen im Konsumgüter- und Nahrungsmittelbereich interessiert ist. Dies ist ein merklicher Unterschied zu früher, als etwa der Maschinenbau

-auch noch unter Gorbatschow - eindeutig im Vordergrund stand.“

Ungeachtet des kalten Krieges und massiver ideologischer Ressentiments in beiden politischen Lagern fanden die BRD und die UdSSR bereits in den frühen fünfziger Jahren wirtschaftlich Gefallen aneinander. Von 1952 bis 1957 stieg das Handelsvolumen zwischen beiden Staaten von 4,2 Millionen auf immerhin 157 Millionen Dollar. Die BRD importierte zuvorderst Roh- und Brennstoffe, während die UdSSR in erster Linie Maschinen einführte. Ein breiterer Handel scheiterte an der mangelnden Qualität vieler Sowjet-Produkte, woran sich bis heute kaum etwas geändert hat. Mitunter wurden sogar an die DDR adressierte BRD-Güter an den großen Bruder in Moskau weitergereicht, was die Bilanzen freilich verschweigen.

1958, in diesem Jahr erzielte der Adenauer-Staat das dritthöchste Bruttosozialprodukt der Welt, kam es zum Abschluß des ersten Handelsabkommens zwischen Bonn und Moskau. Die damals ausgegebene (politische) Parole von einer „friedlichen Koexistenz“ diente als Schutzschirm für die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen - daran vermochten weder die (zweite) Berlinkrise noch Kennedys Schweinebucht-Manöver Wesentliches zu ändern.

Einen herben Rückschlag erlitt die scheinbare Idylle, als zwischen 1963 und 1972 kein Handelsabkommen unterzeichnet wurde. Der Warenstrom in Richtung Osten ging merklich zurück. Schuld hatten die Akteure jener Zeit. Kiesinger und Brandt, die Großen Koalitionäre, einerseits sowie Breschnew und Kossygin andererseits verfielen in einen „Dialog der Schwerhörigen“. Trauriger Tiefpunkt war das gewaltsame Ende des Prager Frühlings, wodurch die politischen wie wirtschaftlichen Kontakte dem Gefrierpunkt entgegenstrebten.

Mit der Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt als Bundeskanzler erlebte der bundesdeutsch-sowjetische Handel einen enormen Auftrieb. Bis 1979 stieg das Handelsvolumen auf rund sechs Milliarden Dollar, die Sowjetunion avancierte zum zehntgrößten Exportmarkt der Bundesrepublik. Die UdSSR verschuldete sich hoch, um Fertigwaren wie Großröhren, Maschinen oder chemische Produkte zu erstehen. Im Gegenzug erwarb die Bundesrepublik Rohstoffe und Halbwaren (Chemikalien, Holz, Baumwolle u.a.).

Mit dem beginnenden Verfall der Rohstoffpreise, von dem ganz besonders die ölexportierende Sowjetunion betroffen war, ermüdete der Ost-West-Handel allmählich. „Der Ölpreisverfall und die Importhöhe in der Sowjetion verliefen parallel“, weiß Ostexperte Weißenburger vom DIW. Dennoch konstatiert auch er den Drang der Sowjetunion, „sich in den Weltmarkt zu integrieren“. Freilich haben sich die Vorzeichen unter Gorbarschow verändert. „Genossen!“, gab er vor zwei Jahren im ZK der KPdSU die Devise aus, „im Mittelpunkt unserer Wirtschaftspolitik und der Wirtschaftspraxis steht der Mensch mit seinen realen Interessen und Beweggründen.“

Die dafür notwendige Förderung der Konsumgüterindustrie heißt für Gorbatschow nun, bundesrepublikanische Unternehmen für den Einstieg in Joint-venture-Unternehmen zu interessieren. Mehr als 70 solcher deutsch-sowjetischer Unternehmen gibt es momentan in der Sowjetunion. Nunmehr wird vereint produziert in Keks- und Wurstfabriken oder auch Atomkraftwerke modernisiert. Willkommen sind nicht nur Konzerne, sondern auch innovative Klein- und Mittelbetriebe. Um den (potentiellen) Investoren die Ernsthaftigkeit seiner Offerte zu demonstrieren, aber auch zur Stabilisierung des wieder in Gang gekommenen Handelsaustausches wird der KPdSU -Chef zwei wichtige Abkommen unterzeichnen: ein Investitionsschutzabkommen sowie einen Vertrag über die „vertiefte Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft“.

Daß es Gorbatschow ernst meint, hat er bereits kurz vor dem Abflug in die Bundesrepublik deutlich gemacht: Der aufgeblähte Rüstungsetat soll zugunsten einer Reduzierung des Haushaltsdefizits kräftig abgebaut werden; zudem, betonte Ministerpräsident Ryschkow, sollen 9.000 (!) defizitäre Betriebe in Kunkurs gehen. Sisyphos war im Vergleich zu Gorbatschow ein gammelnder Arbeiter. Die Zeit drängt. Ulrich Weißenburger: „Gorbatschow hat Schwierigkeiten, mit seiner Wirtschaftsreform zu Potte zu kommen. Wenn es ihm nicht gelingt - dann ist eine Situation wie in Polen 1980/81 unter Umständen durchaus möglich.“