Die Güte des reichen Onkels

■ Repräsentiert der Gast oder der Gastgeber die Großmacht?

Folgt man den Ratschlägen Bonner Politiker, die dem Gorbatschowbesuch in der Bundeshauptstadt vorauseilten, so entsteht der Eindruck, der Repräsentant einer Großmacht komme zum Nachhilfeunterricht an den Rhein. Dabei war es Gorbatschow, der den Weg für eine neue Politik öffnete, die nicht so scheitern dürfte wie die seines Vorgängers Breschnew.

Und nicht nur in der Abrüstungspolitik ging der Reformer aus dem Kreml neue Wege. Auch die Deutschlandpolitik wird sich durch ihn ändern. Gorbatschow erst ermöglichte den Besuch Honeckers in Bonn. Bis dahin hemmte die DDR die Entwicklung der Beziehungen Bonn-Moskau, danach hemmte Moskau die Beziehungen Bonn-Ost-Berlin.

Auf die Frage, wie der deutsche Kanzler heiße, antworten bei einer Telefonumfrage in Moskau 27 Prozent: „Schwer zu sagen.“ Auch der Name jener kleinen Stadt am Rhein, in der Gorbatschow gestern eintraf, ist nicht allen ein Begriff. Wer ist schon Kohl, was ist schon Bonn: Die Umfrageergebnisse, in der Zeitung 'Moskau News‘ veröffentlicht, setzen ein schwaches Gegenlicht zu dem Bonner Treiben dieser Tage. Könnte man doch sonst die Landkarte aus dem Auge verlieren und glauben, hier träfen sich zwei gleichrangige Großmächte - oder gar: Nur der Gastgeber sei die Großmacht.

Bonn empfängt seinen Gast mit der Freundlichkeit des reichen Onkels, eine Freundlichkeit, die gute Ratschläge über die richtige Verwendung des Taschengelds einschließt. Gorbatschow soll die Wirtschaft mehr dezentralisieren, dann wird's schon klappen (Lafontaine), und er soll endlich das Preissystem reformieren (Waigel), denn sonst wird es nicht klappen. Über seinen eigenen Einfluß soll sich der Neffe keine Illusionen machen. „Wir“, sagt Außenminister Genscher, „wir schaffen der Geschichte die Chance eines vernünftigen Verlaufs.“ So wie bisher schon die sowjetische Abrüstungspolitik zum Erfolg der Nato-Aufrüstung umdefiniert wurde, so sind jetzt die Veränderungen in Osteuropa „Ergebnis einer standhaften und beharrlichen Politik der westlichen Demokratien“ (Geißler).

Bonn trumpft auf

Daß der sowjetische Staatspräsident mit Problemen beladen nach Bonn kommt, wird nicht ungern gesehen: Steht es doch in wohlgefälligem Kontrast zu der gerade wiedergewonnen Stabilität bundesdeutscher Politik nach dem Brüsseler Nato -Gipfel. Die Bundesregierung könne Gorbatschow nun aus einer gestärkten Position gegenübertreten, versichert Alfred Dregger mit Genugtuung; sie habe an Gewicht in Europa und in der Nato gewonnen. Immer wieder erinnern führende Konservative in diesen Tagen an das Wort von US-Präsident Bush, die Bundesrepublik sei in der Allianz Partner „in leadership“.

Komplettiert durch Gorbatschows Äußerung von der bundesdeutschen „Schlüsselrolle“ in den Ost-West -Beziehungen, sonnt sich die Bundesregierung im Gefühl, Nabelpunkt und Schnittstelle der Weltpolitik zu sein. Und das wenige Tage vor der Europa-Wahl, deren Apostrophierung als Schicksalwahl für Kohl verdrängt und vergessen scheint.

Die Sowjets wissen sehr wohl, wie gelegen Kohl die Terminierung dieses Staatsbesuchs kommt. Und Gorbatschow selbst steuerte Stichworte bei, die jede Dimension der Landkarte verdrängen: Er bezeichnete die Bundesrepublik als „großen Staat“ in einem Atemzug mit seinem eigenen großen Staat, und die 'Welt‘ druckt das gerne nach.

Die erdrückende Umarmung durch den reichen Onkel beantwortet die sowjetische Delegation mit dem ständigen Beschwören einer Kommunique-Floskel: „Die neue Qualität der Beziehungen“. Da werden auch kleine Provokationen übersehen, wie diese: Kurz vor dem Eintreffen Gorbatschows macht die US -Botschaft in Bonn eine Pressekonferenz zum „Star-War„ -Programm SDI. Oder: Die gerade beschlossene Erhöhung des Rüstungsetats der Nato-Staaten.

Nur in Hintergrundgesprächen geben sich die Sowjets etwas selbstbewußter: Zu dem fortdauernden Drängeln, Gorbatschow solle in Bonn eine deutschlandpolitische Initiative ergreifen, meint ein Vertreter des Außenministeriums, dazu gäbe es ja wohl gerade im Augenblick wenig Anlaß, wo die Bundesrepublik in permanenten Festreden ihre Unverbrüchlichkeit mit der Nato bekunde.

Sowjets wollen einen

dicken Schlußstrich ziehen

Die „neue Qualität“ der Beziehungen, das ist die Floskel für den roten Teppich, auf dem bundesdeutsches und EG-Kapital in die Sowjetunion fließen soll. Nikolai Portugalow, der Deutschlandexperte des ZK, nennt auf die Frage nach der „neuen Qualität“ als erstes die „optimalen Verhältnisse für bundesdeutsche Investoren“.

Wjatscheslaw Daschitschew, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats im Moskauer Außenministerium, räumt in einem Interview ein, die wirtschaftliche Vormachtstellung des reichen Onkels in Europa könne zwar zu Recht Frankreich beunruhigen - „aber für uns ist das kein Problem“. Im Gegenteil: „Wegen der enormen Aussichten auf wirtschaftliche Zusammenarbeit“ ist ein Wirtschaftsgigant BRD gerade recht.

Auf dem roten Teppich sollen auch die nazideutschen Verbrechen in der Sowjetunion kein Stäubchen sein. ZK -Berater Portugalow zieht „einen dicken Schlußstrich unter die Vergangenheit“ und ist damit noch schneller als Kohl. Der Kanzler versicherte gegenüber sowjetischen Journalisten noch milde, man wolle die Vergangenheit nicht „ausklammern“. Beim großen Sprung nach vorn, den die Sowjets in den Beziehungen machen wollen, springen sie aber lieber gleich über alle deutschen Erblasten hinweg.

„Das Blut unserer Völker hat sich schon zur Zeit Katharinas der Großen gemischt“, sagt Alissa Freundlich, als Schauspielerin Mitglied der sowjetischen Delegation. Und daran zu erinnern sei doch „viel natürlicher“ als „an die vierziger Jahre.“

Da bleibt nur noch einmal der Blick in die 'Moskau News‘: Als typische deutsche Eigenschaften sehen 17 Prozent „Aggressivität“, nur zwei Prozent „Friedensliebe“. Aber das ist natürlich nicht repräsentativ: Wer schon Kohl nicht kennt...

Charlotte Wiedemann