Die Russen sind da

■ Alle-lieben-Gorbatschow zum viertägigen Besuch am Rhein / Grundsatzerklärung und elf Verträge fertig / Kohl appelliert wieder

Bonn (dpa/ap/taz) - Um elf Uhr siebzehn lief das Objekt der Begierde gestern in Bonn über den roten Teppich. Michail Gorbatschow, Chef der sowjetischen Kommunisten und frischgebackener Staatspräsident der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, kam zum viertägigen Staatsbesuch an den Rhein. Neun von zehn BürgerInnen des Landes, das er da besucht, meinen, der Mann aus dem Kreml verdiene Vertrauen - von seinem Gastgeber, dem bundesdeutschen Kohl, sagt das, laut ZDF, nur jedeR zweite.

Die französische 'Le Monde‘ urteilte denn auch am Tag, als die Russen kamen: „Die Liebe, die ein großer Teil des deutschen Volkes der sowjetischen Nummer eins entgegenbringt, ist genau so leidenschaftlich, wie es einst der tiefgehende Antikommunismus derselben Deutschen war.“ Die Deutschen in der DDR dürfen die Liebe nicht empfinden: In der Presse des Landes wurde der Staatsbesuch im Nachbarstaat mit keiner Silbe erwähnt. Auf der Straße in Bonn hingegen bemühte man große Vergleiche: „Ich habe hier zuletzt Anfang der sechziger Jahre auf Kennedy gewartet“, bekannte eine weißhaarige Frau vor dem Sitz des Bundespräsidenten.

Der Ersatz-Kennedy der achtziger Jahre wurde dann am Mittag von Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor der Villa Hammerschmidt begrüßt, bei strahlendem Sonnenschein, versteht sich, und mit militärischen Ehren. Vor dem viertägigen Besuch, dem ersten eines sowjetischen Generalsekretärs seit 1981, sahen Politiker beider Länder bereits eine neue Ära in den Beziehungen zwischen Bonn und Moskau heraufziehen. Raissa Gorbatschowa begleitet ihren Mann, und außerdem reisten Außenminister Eduard Schewardnadse, Politbüromitglied Alexander Jakowlew, der stellvertretende Ministerpräsident Iwan Silajew sowie der militärpolitische Berater, der ehemalige Generalstabschef Sergej Achromejew, mit. Insgesamt zählt die sowjetische Delegation über 60 Mitglieder. Die meisten durften aber bei Weizsäcker am Mittag nicht mitessen. Der Troß samt Chef bewohnt in Bonn die sowjetische Botschaft.

Der Bundeskanzler und Gorbatschow nahmen ihre politischen Gespräche am Nachmittag auf. Zur Begrüßung seines Gastes ein echter Kohl: „Lassen Sie uns beginnen, das neue Kapitel zu schreiben.“ Gorbatschow meinte, es ginge um mehr als einen „schlichten Austausch von Besuchen“. Beide Seiten messen offenbar einer gemeinsamen Erklärung besondere Bedeutung bei, die heute zusammen mit elf Abkommen unterzeichnet wird. In der Erklärung soll auf die Bereiche Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle eingegangen und ein Ausblick auf die weitere Gestaltung der bilateralen Beziehungen gegeben werden. Darin komme ein „neues Denken“ der sowjetischen Außenpolitik zum Ausdruck, meinte Kohl-Berater Teltschik. Mit den elf Abkommen, die unterzeichnet werden, sollen vor allem die wirtschaftlichen Beziehungen, aber auch der Lehrer -, Schüler- und Jugendaustausch und die kulturellen Verbindungen ausgebaut werden. Ein Vertrag über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Investitionen garantiert Firmen in beiden Ländern Schutz vor Enteignung sowie einen freien Transfer von Kapital und Erträgen.

Gestern abend, beim Festessen in der Godesberger Redoute, appellierte Kohl dann gestern wieder. Er forderte den sowjetischen Staatspräsidenten zu einem weiteren einseitigen Abrüstungsschritt auf. Moskau solle durch einseitigen Abbau von Kurzstreckenraketen die Voraussetzungen für Verhandlungen über diese Waffen erleichtern. Und wie es sich für einen deutschen Bundeskanzler immer noch gehört: Erneut sprach er auch auf die deutsche Teilung an: „Die fortdauernde Teilung empfinden wir wie eine offene Wunde.“ Am Nachmittag hatte übrigens DKP-Chef Herbert Mies gestern als einziger Parteivorsitzender einen Gesprächstermin ganz allein mit dem Glasnost-Erfinder bekommen. Vielleicht nützt's.

ar

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Foto: Christian Schulz