Glanz und Elend eines Korridors

Mit dem Umzug der tageszeitung stirbt das wichtigste Mittel taz-interner Kommunikation: Der Flur-Funk  ■ t a z - I N T E R N

Alles auf Erden ist lyrisch in seinem ideellen Wesen, tragisch in seinem Geschick und komisch in seiner Wirklichkeit. George Santayan

Der wichtigste Raum der taz ist nicht etwa der große Plenumsraum mit dem legendären Kommune-1-Tisch, auch nicht das noch junge Chefzimmer, in dem sich das Six-Pack -Management verzweifelt bemüht, den Kurs festzustellen und eventuell neu zu bestimmen. Nein, der bedeutendste Raum in diesen heiligen Hallen ist ein 50 Meter langer Schlauch der rätselumwobene taz-Flur. Und er ist in seiner ganzen Länge abgrundtief häßlich.

Berge von blauen Müllsäcken türmen sich zu beiden Seiten des Korridors, schmutzige Kaffeetassen, weiße Porzellanteller mit Essensresten, kurz vor dem Stadium ihrer Verwesung, und massenhaft leere Cola-, Bier- und Sektflaschen an allen Stellen, wo sich derartiges Geschirr abstellen läßt. Das Weiß der Holzwände ist mit den Jahren zu einem widerlichen Säuregelb verkommen, in seiner Abscheulichkeit nur noch übertroffen von den Hunderten von Veranstaltungsplakaten, hausinternen Mitteilungen und diversen Aufklebern, die teilweise in mehreren Schichten die Wände bedecken.

Er ist einfach wunderbar! Ich liebe diesen Flur. Das ganze Horror-Interieur gibt einem das herrlich warme Gefühl, daß jeder Quadratzentimeter dieses Raums von lebendigen Menschen benutzt wird. Unter den spärlich angebrachten Neonröhren, die mit einem kosmetisch nachsichtigen Leuchten diesen bizarren Korridor bestrahlen, spielt sich jeden Tag ein Szenario ab, wie es selbst der große Fellini nicht besser inszenieren kann. Ich habe Dinge gesehen, die ihr Leser niemals glauben würdet.

Hier trifft man die seltsamsten Geschöpfe des Großstadtdschungels: Schwarzgekleidete Streetfighter, militante Feministinnen, schrille Punks, alte Hippies und junge Schicki-Mickies wechseln sich ab mit düsteren Heavy -Metall-Satanisten, mitteilungsgeilen Kleindarstellern, Hundemördern, Katzenfetischisten, dänischen Gewerkschaftsgruppen, 'Spiegel'-Reportern und Schweizer oder finnischen Fernsehteams. Nun aber zu sagen, der Flur sei doch nur der Verbindungsgang zwischen den einzelnen Redaktionsräumen, technischen Abteilungen und der Kleinanzeigenannahme, das wäre ungefähr das gleiche, als wolle man behaupten, der Papst sei nur katholisch. Denn dieser ungewöhnliche Flur beherbergt das zentrale Instrument taz-interner Kommunikation: Den Flur-Funk!

Der Flur-Funk ist eine Mischung aus Klatsch, Tratsch, wichtigen und völlig überflüssigen Nachrichten, bösen Witzen und den schönsten Gerüchten. Da es in dieser Zeitung nur Häuptlinge und keine Indianer gibt, ist es für jeden tazzler, der auf dem „Flaggschiff der Alternativbewegung“ überleben will, absolute Pflicht, regelmäßig den Flur-Funk zu hören. Hier auf dem Flur werden die neuen Ideen geboren, hier werden Strategien festgelegt und Personalpolitik betrieben. Es ist schier unmöglich, den komplizierten Zusammenhang der verschiedenen Cliquen, Lobbies und anderer politischer und sexueller Beziehungen zu begreifen und zu nutzen, wenn man nicht täglich den Flur-Funk abhört.

Schon morgens, wenn man noch leicht verschlafen in die Kantine schlurft um sich den ersten Kaffee des Tages zu besorgen, schnappt man, neben dem aktuellen Stand der Weltlage, eine Fülle von internen Informationen auf, die für den Arbeitstag von entscheidender Bedeutung sind. Man erfährt zum Beispiel, daß der Inlandredakteur heute vor Energie und Arbeitslust strotzt, hat er doch gerade einen längeren Artikel an ein Hochglanzmagazin verkauft. Die Auslandsredakteurin ist dagegen äußerst mies drauf, sie wurde wieder einmal von ihrem Freund (33, Dozent und manisch depressiv) verlassen. Auch mit dem Kulturredakteur ist heute nicht gut Kirschen essen, seine Mutter aus Westdeutschland ist zu einem längeren Besuch da. Und hatte er die Putzleidenschaft der guten Frau anfangs noch mit großem Wohlgefallen betrachtet, so änderte sich das schlagartig, als Mama seinen geliebten Videorecorder naß abwischte und damit das teure Stück tötete. Ein Abo-Mensch sieht aus, als hätte er gerade einen Flugzeugabsturz überlebt, und trägt eine sehr dunkle Sonnenbrille, was auf eine harte Nacht schließen läßt. Auch der Produktionscontroller sieht wieder mal aus, als würde er zu seiner eigenen Beerdigung gehen, der geschulte Beobachter diagnostiziert sehr richtig Alkoholmißbrauch. Der sonst immer schlecht gelaunten Layouterin kann man heute die unmöglichsten Aufgaben stellen, sie wird alles ohne zu murren bravourös erledigen, ist sie doch frisch verliebt. Man hört, daß die sozio -sexuelle Beziehung zwischen Säzzerin und Ökoredakteur wieder mal auf der Kippe steht, daß der Sportredakteur sich einen bösen Muskelfaserriß zugezogen hat, und in einer stillen Ecke schickt ein Aktuellenredakteur dem Gott der schreibenden Zunft ein kurzes Stoßgebet empor, welches die Beschwerden fortgeschrittenen Alters zum Inhalt hat.

Diese Informationen werden mit immer neuen Details in Windeseile verbreitet, verarbeitet, und jeder Einzelne überlegt, wie er die Infos als taktischen Vorteil nutzen kann: Der verliebten Layouterin kann man heute problemlos die vier Extraseiten anvertrauen, die Sportseite wird Verspätung haben, ebenso wahrscheinlich die Kulturseiten. Den Inlandsredakteur kann man mit ruhigem Gewissen neben einer langen Reportage auch noch einen Kommentar schreiben lassen. Dem verkaterten Produktionscontroller geht man besser aus dem Weg, und irgendwie muß man noch einen Geburtstagsgruß für den Aktuellenredakteur ins Blatt bekommen.

Das pulsierende Herz des Flur-Funks befindet sich ungefähr in der Mitte des Korridors. Hier, zwischen Sazz, Layout, Aktuellenredaktion und Produktionscontroller-Kabuff verzieren ein paar braune Sperrmüll-Sessel und ein ewig verdreckter Couchtisch den Flur. Durch die stets offenen Türen sieht man die Embleme ehrgeiziger Technologie, die großen grünen und grauen Augen der Alpha- und Nokia -Terminals starren einen an. Durch dieses Nadelöhr muß jeder hindurch, der irgendetwas mit der aktuellen Tagesproduktion zu tun hat. Da in einigen Räumen absolutes Rauchverbot herrscht, findet man auch immer ein paar bemitleidenswerte Nikotinsüchtige, die sich in den Sesseln räkeln und den Tisch noch mehr versauen. Das ist die groteske Zentrale des Funks, das wirbelnde Spektrum der Zeitung, hier laufen alle Fäden zusammen.

Nichts entgeht dem sensiblen Flur-Funk, die winzigste Kleinigkeit wird gründlich analysiert und ausgiebig kommentiert. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob es sich um die bevorstehende Wurzelbehandlung eines Säzzers, die Schwangerschaft einer Vertriebsfrau oder um das neue Kleid der Auslandsredakteurin, mit einem Blütenmuster, wie es die Natur niemals hervorbringen kann, handelt. Der Knutscherei der Korrektorin mit dem bärtigen Säzzer wird ehrlicher Respekt gezollt. War man doch bis jetzt immer der Meinung, um diesen zugewachsenen Menschen zu küssen, brauche man eine Machete. Ja, hier nimmt man sich noch die Zeit, die Leute richtig kennenzulernen. Schon das geringste Flirten wird registriert, und sogleich werden die Chancen für eine dauerhafte Beziehung ausgelotet. Nur hier erfährt man, wer mit wem, wann, wo und wie. Hier hört man die schönsten Witze über die Autonome-Abo-Abteilung und dem ehrgeizigen Redakteur, der sich selbst für einen jungen Tucholsky hält, wird geraten, angesichts der miesen finanziellen Lage der Zeitung, möge er seine Artikel doch in kleine Glasröhrchen verpacken und als Schlafmittel verkaufen.

Der neue schwarzgelockte Layouter entpuppt sich sehr schnell als radikaler Feminist, wird aber von einer Kollegin sogleich zurechtgestutzt, als sie ganz beiläufig bemerkt, er sähe aus wie ein öbszöner Anruf. Mit der neuen Frau auf dem Schleudersitz der Medienredaktion hat der Flur-Funk noch seine Schwierigkeiten. Man munkelt, sie sei so mitteilsam wie das 'Neue Deutschland‘ und hätte wahrscheinlich mehr Geheimnisse als alle Silberpappeln im ZK der SED zusammen. Dafür ist aber das Rätsel gelöst, warum ausgerechnet der gutaussehende aber leider völlig untalentierte freie Autor in der letzten Zeit soviele Artikel in der Zeitung unterbringen konnte. Hat der Mann doch eine leidenschaftliche Liebesbeziehung mit der zuständigen taz -Redakteurin. Sollte man nach ein paar Wochen nichts mehr von dem Typ lesen, liegt das wahrscheinlich nicht an seinem kreativen Tod, sondern läßt eher auf ein abruptes Ende der Love-Story schließen.

Um die Mittagszeit beherrscht nur ein Thema den Flur-Funk: Was gibt es zu essen? Späher werden ausgeschickt, damit diese existentielle Frage ausreichend beantwortet werden kann. Oft kommen sie mit grausigen Beschreibungen dessen zurück, was sie in der Kantine sahen. Dann geht sogleich der halbfranzösische Feinschmecker und Produktionscontroller auf Sendung, um nach einer kurzen Einführung über die Widerwärtigkeiten der Deutschen Küche den verdutzten kulinarischen Tieffliegern eine Lektion in Demut zu erteilen und die richtige Zubereitung eines Rable de Lapin roti a la Sauce Bigarrade zu erläutern. Niemand versteht auch nur ein Wort, aber das ist völlig nebensächlich, verkürzt dieser geschliffene Monolog doch die Zeit bis zum Essenfassen aufs angenehmste. Der Redner schließt mit einem verabscheuungswürdigen Gerücht. Er hätte gehört, so versichert er mit prophetischer Ernsthaftigkeit, daß die Kantine ab heute als Dessert immer das Gegenmittel ausgeben würde.

Der Nachmittag ist ziemlich ruhig. Der rauchgeschwängerte Äther des Korridors wird nur von den hektischen Schreien und Flüchen derjenigen gestört, die versuchen, eine linke Zeitung zu machen. Nach Sechs läßt der Streß allmählich nach, und das Chaos, die Ursubstanz der taz, zieht sich geschlagen zurück. Jetzt kommen sie wieder auf dem Flur zusammen, der Säzzer mit Augen wie Einschußlöcher, die Aktuellenredakteurin mit einem alkoholgeborenen Lächeln auf den Lippen und der immer noch hungrige Produktionscontroller. Einige gehen auf Sendung, aber die meisten hören einfach nur zu, sagen nichts und wissen später alles. Sie hören von neuen Computerspielen und wie man deren Kopierschutz knackt, sie erfahren die aktuellen Preise für biodynamisch angebautes Super-Gras aus Ghana und sie lächeln über den Redakteur, der verzweifelt versucht, noch eine letzte Meldung in der Zeitung zu plazieren. Der metaphysisch angehauchte Säzzer versucht eine Diskussion anzuzetteln, über die Fragen die uns alle schon längst nicht mehr interessieren (Woher kommen wir, Wohin gehen wir? Wieviel Zeit bleibt uns?), und der revolutionäre Layouter erklärt allen sehr geduldig und anschaulich die richtige Herstellung eines Molotow-Cocktails.

Karl Wegmann