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Perestroika: Großes Risiko mit vielen Hemmnissen

Das vielfältige Geflecht in der Sowjetunion aus Pfründen in staatlichen Betrieben und Behörden, privaten Genossenschaften und Schattenwirtschaft erweist sich als ausgesprochen zäh gegenüber einschneidenden Reformbemühungen / Ohne illegales Wirtschaften läuft nichts, Gefahr der Kriminalität aber groß  ■  Von Erhard Stölting

Wirtschaftliche Erfolge hat die Perestroika bisher nicht gezeitigt. Die Stagnation geht weiter, die Versorgungslage hat sich verschlechtert. Die Stimmung ist sowohl in der Bevölkerung als auch bei den Reformökonomen eher düster. Die Richtung ist klar, das Ziel unbekannt, der Erfolg ungewiß.

Die Ausgangslage

Der Hauptvorteil einer zentral geplanten Wirtschaft wirkte bis Ende der sechziger Jahre: Die Zuwachsraten waren beeindruckend. Auch der Lebensstandard stieg vor allem in der Frühzeit der Ära Breschnew. Dann wurden die Grenzen des Systems deutlich. Nach offiziellen Angaben produzierte die Sowjetunion zwar 4,5mal so viel Traktoren wie die USA, ihre Stahlproduktion war doppelt so hoch. Zusätzlich wurden jährlich für circa 2,3 Milliarden Rubel Walzstahl importiert. Die gigantischen Großprojekte waren jedoch nie wirtschaftlich durchgerechnet worden; sie waren vielfach überflüssig, zu teuer, ineffizient und ökologisch katastrophal. Das industrielle Wachstum verdankte sich fast ausschließlich dem Bau immer neuer Fabriken, das landwirtschaftliche der Erschließung von Neuland. Seit den siebziger Jahren gingen die Zuwachsraten zurück, bis sie in den achtziger Jahren zum Stillstand kamen. Aber weiterhin wurden Rohstoffe, Energie, Wald und Boden vergeudet, als seien sie unerschöpflich. Akut wurde die Krise durch den Verfall der Weltmarktpreise für die einzigen wichtigen Devisenbringer Erdgas, Erdöl und Gold. Der Import von dringend benötigtem Getreide und Industriegütern war immer schwerer zu finanzieren.

Wie jetzt zugegeben wird, war der Staatshaushalt schon lange chronisch defizitär. 40 Milliarden Rubel Verluste entstanden allein 1987 durch den Verfall der Erdölpreise, ebensoviel kosteten die Anti-Alkoholmaßnahmen, acht Milliarden Rubel der GAU von Tschernobyl. Die Subventionen, die seit 1965 um das Zwanzigfache, auf 73 Milliarden Rubel, gestiegen waren, belasteten den Etat zusätzlich.

Auch die technische Basis ist vollkommen veraltet. Eine Modernisierung, die eine rationelle und weltmarktfähige Produktion gestatten würde, ist schier unbezahlbar. Das ist um so gravierender, als die westlichen Industrieländer seit Anfang der achtziger Jahre einen Innovationsschub erlebten. Nun ist die Sowjetunion kein technisches Entwicklungsland. Sie hat fähige Ingenieure und eine gefürchtete Militärtechnologie. Bei den zivilen Technologien aber fehlt es an Effizienz.

Es wurde allen in der Parteispitze klar, daß eine tiefgreifende Reform des Systems stattfinden mußte. Der Konflikt ging und geht darum, wie tiefgreifend er zu sein hat und welche politische Kosten in Kauf zu nehmen sind. Wie bei jeder tiefgreifenden Reform sind überdies die (vorläufigen) Verschlechterungen, von denen eine politische Gefahr ausgeht, zuerst spürbar.

Versorgungsprobleme und soziale Gefährdungen stellen damit eine größere Gefahr für die Perestroika dar als der Widerstand ideologischer Holzköpfe oder der „Kampf um jede Aktentasche“ im Zuge des Abspeckens der Bürokratien. Einige Maßnahmen, die schnell greifen, wurden inzwischen durchgeführt. So können die Betriebe jetzt überschüssige Arbeitskräfte entlassen, der Militäretat wurde, vorbereitet durch die Entspannungspolitik, erheblich zurückgestutzt, das Abspecken der Bürokratien geht weiter. All das ändert aber die Strukturen noch nicht grundlegend.

Hemmnisse

Nach dem „Gesetz über den Staatsbetrieb“, das am 1.1. 1988 in Kraft trat, sollen die Industriebetriebe jetzt ihre Produktionspläne selbst festlegen und sich ihre Kunden und Lieferanten selbst suchen. Sie müssen jetzt bei Strafe des Untergangs ohne Verlust arbeiten. Im Prinzip gibt es nur noch eine Kennziffer: den Gewinn. Auf dem Markt würden sich dann realistische Preise herstellen. Die am Gewinn orientierten Betriebe wären motiviert, die Kosten für Löhne, Rohstoffe und Energie zu senken, zu rationalisieren und - im Interesse des Absatzes - für die Qualität und Verkäuflichkeit ihrer Produkte zu sorgen. In diesem Sinne wurden die Kompetenzen der Planungsbehörde Gosplan eingeschränkt. Sie stellt keine detaillierten verbindlichen Jahrespläne mehr auf, sondern beschränkt sich auf sektorale und regionale Strukturplanung. Entsprechend wurden die Plankennziffern um 70 Prozent reduziert. 1988 gab es nur noch Materialbilanzen und Verteilungspläne für 415 Produkte statt für 2.117 wie noch im Jahr 1987.

Das Gesetz ist aber bisher kaum mehr als eine Absichtserklärung. Seine Realisierung würde den Großhandel mit Produktionsmitteln voraussetzen, der aber erst Mitte der neunziger Jahre geschaffen werden soll. Sie würde eine Preisreform voraussetzen, die aus Furcht vor sozialem Sprengstoff ebenfalls bis dahin verschoben wurde. Die Betriebsdirektoren sollen zwar über Fertigungsprogramm, Zulieferer, Abnehmer, Lohnhöhe und Preise entscheiden, aber sie können es nicht. An die Stelle der alten Planauflagen sind „Staatsaufträge“ getreten, die ungefähr 80 Prozent des gesamten Produktionsvolumens ausmachen.

Die Engpässe bei Produktionsmitteln und Ersatzteilen bestehen fort. Wie früher stehen die Maschinen bei einem Schaden lange, vielleicht auch endgültig still. Solange die Betriebe nicht selbst auf den Absatz schauen müssen, brauchen sie sich mit lächerlichen Dingen wie Wartung oder Ersatzteillieferungen nicht besonders abzugeben.

Ein riskantes Mittel, den technischen Rückstand zu verringern, besteht gegenwärtig darin, Kredite aufzunehmen, um Importe zu finanzieren. Es ist aber alles andere als sicher, daß bei den noch bestehenden Strukturen die Mittel effizient eingesetzt werden. Die Sowjetunion könnte in das Dilemma Rumäniens, Ungarns oder Polens geraten: einen Teil des Geldes zu verplempern.

Bei den Gemeinschaftsunternehmen (Joint-ventures) ist immerhin zu bedenken, daß die westlichen Kapitalgeber nicht altruistisch sind. Sie wollen sich weder lästige Konkurrenz schaffen noch auf Gewinne verzichten. Vor allem im Bereich des Managements haben die Gemeinschaftsunternehmen deutlich gemacht, daß die Strukturschwäche bis ins Detail geht. Kaum bekannt sind bisher moderne Techniken der Betriebsorganisation und Buchführung. Vor allem aber fehlen Experten für Marketing, für internationales Vertragsrecht und für moderne Finanzierungstechniken.

Konsumtion und Arbeitskraft

Die Anbindung der sowjetischen Wirtschaft an den Weltmarkt setzt strukturelle Dynamiken frei, die schon an finanziellen Problemen scheitern können: Die Einsparung von Arbeitskräften schafft Arbeitslosigkeit, und die verlangt eine kostspielige Sozialpolitik. Die geplante stärkere Differenzierung der Einkommen kostet Geld. Denn in den unteren Lohngruppen kann kaum noch gekürzt werden; also müßte man oben aufstocken.

Eine Steigerung der Einkommen wirkt überdies nur dann als Anreiz, wenn es etwas zu kaufen gibt. Gegenwärtig gilt aber noch, daß, anders als im Kapitalismus, nicht Waren nach kaufkräftigen Abnehmern suchen, sondern kaufkräftige Abnehmer nach Waren. Soll aber die Konsumgüterproduktion nachhaltig steigen, müßte nicht nur kräftig investiert, sondern auch das Primat der Produktionsgüter strukturell beseitigt werden. Gälte die gute alte kapitalistische Maxime, daß es egal ist, womit das Geld verdient wird, Hauptsache, es wird verdient, dann würde der gesellschaftliche Konsum nicht mehr als lästiger Kostenfaktor, sondern als Gewinnquelle betrachtet werden. Das aber setzt ungehemmte Marktbeziehungen voraus.

Auch auf dem Land lassen sich die Hemmnisse nicht ohne weiteres abbauen. Die Folgen der einseitigen Orientierung an Kennziffern waren hier eher noch verheerender als in der Industrie. Überdimensionierte Maschinen preßten den überdüngten Boden fest, Mähdrescherfahrer ernteten nur die Hälfte ab, weil sie nach Fläche prämiert wurden usw. Es wurde klar, daß die Bindung an den Boden kein metapyhsisches Gewäsch, sondern ein Produktionsfaktor ist. Daher wurden seit 1987 langfristige Pachtverträge mit Familien, seit August 1988 auch mit den selbstorganisierten Kooperativen möglich. Allerdings stoßen diese auf den Widerstand der örtlichen und regionalen Funktionäre, die die staatlichen Vorgaben vielfach einfach ignorieren.

Ähnlichen Widerständen begegnen auch die vielfältigen privaten Initiativen im städtischen Dienstleistungssektor und der handwerklichen Produktion. Daß die Preise hier außerordentlich hoch sind, hat mehrere Ursachen. Die Lizenzen werden von den örtlichen Behörden willkürlich vergeben, da kaum gesetzliche Regelungen existieren; Gebühren werden willkürlich festgelegt; meist bedarf es saftiger Bestechungen; die progressive Besteuerung wirkt entmutigend. Eine Genossenschaft für Sportjacken durfte den Preis nicht von 325 Rubel auf 25 Rubel senken, da die Behörden Steuereinbußen fürchteten. Hohe Preise erklärten sich aber auch daraus, daß die Genossenschaften nicht in staatlichen Geschäften und Betrieben einkaufen dürfen. Sie versorgen sich daher auf den teueren Kolchosmärkten oder in der Schattenwirtschaft. So verwischen sich die Grenzen zwischen den Genossenschaften und der Schattenwirtschaft zuweilen tatsächlich.

Schattenwirtschaft

Schon bisher war die Schattenwirtschaft zugleich Geißel und Funktionsbedingung des Wirtschaftssystems. Die staatlichen Unternehmen horteten illegal Rohstoffe, Maschinen und Ersatzteile. Sie wappneten sich so gegen Engpässe und produzierten sie zugleich bei anderen. Wo wichtiges Material fehlte, brauchte es Findigkeit und Beziehungen. So entstanden Netze von verläßlichen Freundschaften.

Nicht immer mußte nur Eigennutz dahinter stecken; denn das Geben und Nehmen durchzieht die ganze sowjetische Gesellschaft bis in den Alltag hinein. Der Filialleiter gibt dem Transportfahrer, der Transportfahrer gibt dem Kraftfahrzeugschlosser und der dem Lagerverwalter. Wo der Schmierfilm reißt, gibt es Stockungen und Verluste. Die illegale Unterseite garantiert das Funktionieren der legalen Oberseite.

Diese alltägliche Illegalität nährt aber auch weniger harmlose Formen der Kriminalität. Denn wer sich illegal verhält, ist erpreßbar, wer Kontrollmacht hat, muß korrumpiert werden. So konnten richtige Rakkets entstehen, in die auch Vertreter des Staatsapparates und der Polizei verwickelt sind. Da Verträge in diesen gesellschaftlichen Zonen gerichtlich nicht einklagbar sind, ist das staatliche Gewaltmonopol am Ende: Vertragsbrüche werden nach Mafia -Bedingungen geahndet.

Mit Ausnahme von Prostitution und Rauschgifthandel könnten die Wirtschaftsreformen große Teile dieser kriminellen Strukturen trockenlegen. Aber ein großer Teil des gesellschaftlichen Widerstandes erklärt sich gerade aus den moralisch zweideutigen Ursprüngen der neuen Initiativen. So haben auch die biederen neuen Genossenschaften in Moskau offenbar ähnliche Probleme mit Erpressergangs wie die zwielichtigen Nachtbars in Chicago.

Perspektiven

Sollten die sowjetischen Reformen wieder auf halbem Wege stecken bleiben, sollten sie sich auf ein Abspecken des Apparats, auf eine Neuanpassung der Preise oder eine Verringerung der Kennziffern beschränken, könnte nur kurzfristig eine Entlastung erzielt werden. Bereits mittelfristig würde die sowjetische Wirtschaft in die Knie gehen. Je länger die Reform hinausgezögert wird, desto kostspieliger wird sie. Ein sofortiges Crash-Programm scheint aber politisch kaum durchsetzbar.

In ihrem Umfang, nicht in ihrer Richtung, ist die anvisierte Reform nur dem Stalinschen Umbau der sowjetischen Gesellschaft in den dreißiger Jahren vergleichbar. Anders als damals ist jedoch kein Enthusiasmus mehr mobilisierbar.

Der Anschluß an die Weltwirtschaft stellt jedoch harte Bedingungen. Sieht man vom gesellschaftlichen Eigentumstitel ab, der - marxistisch gesprochen - doch eine Form des „Überbaus“ ist, würden sich die sozialistischen Ökonomien den kapitalistischen angleichen müssen. Das schränkt auch die Formen der Betriebsdemokratie, die mit dem Betriebsgesetz eingeführt wurden, erheblich ein. Auch ein gewählter Betriebsleiter müßte sich an wirtschaftlichen Kriterien orientieren. Die Wirtschaft aber muß effizient, nicht demokratisch sein.

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