Wiedervereinigung? Nein danke

■ Gorbatschow und die Befürchtungen im Ausland

Die Bundesrepublik auf einer „neuen Extratour gen Osten“, „Wiedervereinigung“ und „neue Hegemonialmacht in Mitteleuropa“, und diese Perspektive ausgerechnet im „50. Jahr der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes“ - so manchen Kommentatoren im westeuropäischen Ausland und in den USA schwant angesichts der westdeutschen Gorbatschow -Begeisterung übles für das kommende Jahrzehnt. Da denkt man mit Grausen - historisch durchaus zu recht - an deutsche Großmachtpolitik. Da werden Ängste wach, denen 40 Jahre gezähmte Republik als Ausweis von Friedfertigkeit und demokratischer Gesinnung keine hinreichende Garantie für die Zukunft bieten. So wenig es sich empfiehlt, diese Ängste pauschal als abwegig zu denunzieren, so sehr ist doch zu fragen, ob der Besuch Gorbatschows in Bonn tatsächlich der richtige Anlaß für diese Fragen ist. Aus dem Ausland mag es so aussehen, als wenn der - zweifellos großen - Begeisterung von rechts bis links dieselben Motive zugrunde liegen. Es ist vielleicht verständlich, daß ein Beobachter aus London sich die Emotionen als Ausdruck des Wunsches nach Wiedervereinigung erklärt - richtig ist diese Motivforschung deshalb noch längst nicht. Sicher ist nicht von der Hand zu weisen, daß ein Teil der Stahlhelmfraktion der CDU/CSU insgeheim hofft, Gorbatschow die Staatlichkeit der DDR quasi abkaufen zu können. Die Bundesrepublik hat genauso wie alle anderen westlichen Verbündeten ihre Kalten Krieger, die die europäischen Nachkriegsgrenzen bis heute nicht akzeptieren wollen und jetzt auf die Idee kommen könnten, mit Geld zu besorgen, was mit militärischer Macht nicht zu haben war. Realistisch ist dieses Szenario allerdings nicht. Was die breite konservative und sozialdemokratische Mehrheit tatsächlich bewegt, ist die Hoffnung, die Sowjetunion mittelfristig als einen Markt zu erschließen, mit dem das bundesdeutsche Kapital auf lange Sicht saniert wäre. In Zeiten, in denen die militärische Machtwährung zugunsten der ökonomischen verfällt, bedeutet dies natürlich eine politische Aufwertung der BRD, vor der Frankreich und Großbritannien sich grausen mögen - allerdings nicht wegen eines bundesdeutschen Sonderweges, sondern der Festschreibung der Vormachtrolle der BRD in Westeuropa.

Von der bundesdeutschen Linken wiederum wird Gorbatschow als derjenige bejubelt, der endlich bereit ist, aus der verhängnisvollen Rüstungsspirale auszusteigen, und mittels Glasnost Hoffnungen auch auf einen Dialog auf unterschiedlichsten Ebenen weckt. Diese disparaten Interessen lassen sich nicht, selbst wenn eine Bundesregierung dies wollte, zu einer Ostpolitik mit dem Ziel eines wiedervereinigten Staates bündeln. An diesem Punkt gehen die Ängste im Ausland sicher an der Realität vorbei. Das eigentliche Problem stellt sich ganz anders: Wie wird die Bundesrepublik den Machtzuwachs, der ihr durch die sich verändernden Ost-West-Beziehungen völlig unabhängig von einer Widervereinigung zufällt, einsetzen - als Brückenkopf nach Osteuropa, innerhalb der EG und Global?

Der von Gorbatschow apostrophierte Schlußstrich unter die Nachkriegsgeschichte schafft potentiell Raum für einen sich entwickelnden BRD-Nationalismus, für den Widervereinigung ein völlig nachrangiges Bedürfnis ist. Money makes the world go round - im Zeichen militärischer Entspannung liegt hier die eigentliche Versuchung bundesdeutscher Großmachtträume. Als Zahlmeister Europas den anderen seine Bedingungen diktieren zu können - wenn man die Industriellen des „Ostausschusses der deutschen Wirtschaft“ von der Umerziehung sowjetischer Ökonomen schwadronieren hört, weiß man, wovor sowohl die Linke als auch das Ausland sich tatsächlich grausen sollte

Jürgen Gottschlich