Europa - zerrieben im nationalen Räderwerk

Für Fran?ois Mitterrand währte der Europawahlkampf eine Stunde und 50 Minuten - die Zeit einer Pressekonferenz. Die nutzte der Staatspräsident vier Wochen vor den Wahlen, um mit einem einzigen Satz, kurz und knapp, Europa in seine Grenzen zu weisen: „Frankreich muß seinen Rang wahren“, nannte Mitterrand auf seiner Presseshow den Leitsatz französischer Außenpolitik. Freilich, damit sagte der Präsident nichts Neues. „Den Rang wahren“ - dieses Motto hatte bereits Charles de Gaulle in seinen Memoiren verkündet, als er sein Bemühen der Nachkriegszeit beschreibt. Damals galt es für Frankreich und den General, die verlorene Weltmachtrolle zurückzugewinnen, heute gibt Mitterrand mit dem alten Spruch den Ton für die Europawahlen an. EG-Europa kann wählen, was es will und wen es will, Frankreich ist und bleibt eine Weltmacht - nichts anderes verspricht der Staatspräsident.

„Europäische Arbeitnehmerkonferenz“ lautete die jüngste Wahlidee der französischen Sozialisten. Jahrelang hatte sich insbesondere die Gewerkschaftsposition der SPD um ein solches Zusammentreffen bemüht, nie zeigten Frankreichs Sozialisten Interesse daran. Nun schwenkten sie plötzlich um: gar zu wenig fällt ihnen zu „Europa“ ein.

Mehr zu sagen hat Jean-Marie Le Pen. Zum vierten Mal innerhalb von fünf Jahren war der Rechtsradikale bei der zweistündigen Prestige-Fernsehsendung „Heure de verite“ eingeladen. Zum vierten Mal schaffte Le Pen eine nahezu perfekte One-Man-Politshow, bei der es ihm obendrein gelang, „sein“ Europa durchaus kohärent darzustellen: Gegen ein „supranationales Europa“, denn er glaubt an die „biologische Verbindung“ zwischen den Menschen und ihrem Land, gegen das Ausländerwahlrecht auch für EG-Bürger, denn „für die innere Sicherheit gibt es keine Garantie“. Le Pen spricht für das „Europa der Vaterländer“ - eine Sprache, von der ein jeder meint, sie zu verstehen.

Er wettert gegen das „Europa der Brüsseler Technokraten“, die Frankreichs Landwirtschaft ruiniert hätten, einen „neutralisierten, finnlandisierten europäischen Schmelztopf zum Nutzen der Sowjetunion“ und eine schleichende „Sozialisierung der Wirtschaft“. Dennoch bezeichnet sich Le Pen als „proeuropäisch“. Das Europa, das ihm vorschwebt, muß bei der „militärischen Einigung“ beginnen. Schlimmste Nebensache: In der Konturlosigkeit des Europawahlkampfs könnte die Le Pensche Klarheit Wunder wirken. Zumal die übrige Konkurrenz sich in beispielloser Zerstrittenheit darstellt. Erstmals gibt es gleich zwei konservative Europalisten. Die eine, geführt von Expräsident Giscard -d'Estaing und mit dem Parteiapparat von Rechtsliberalen und Gaullisten, die andere von Simone Veil, der angesehenen ehemaligen Präsidentin des Europaparlaments, der die Königsdissidenten aus den Lagern Chiracs und Giscards folgen.

Tatsächlich bietet sich für Frankreichs Rechte mit der Europawahl die willkommene Chance, über ihren internen Hegemoniestreit Gericht zu halten. Längst haben die Enkelkinder de Gaulles zur Revolte auf die Väter angesetzt. Mit der von ihnen mehr oder weniger offen unterstützten Veil -Liste wollen die Newcomer der Rechten, wie der neue Bürgermeister von Lyon Michel Noir oder der ehemalige Arbeitsminister Philippe Seguin, Giscard und Chirac die endgültige Niederlage bescheren. Dabei geht es um viel, nur nicht um Europa. Das hat inzwischen jeder Franzose begriffen.

Weshalb also überhaupt „für Europa“, wie es die Mainstream -Parteien heucheln, wählen gehen? Erwartungsgemäß wird die Partei der Nichtwähler am 18.Juni in Frankreich alle Rekorde brechen. Davon könnten letztendlich sogar diejenigen profitieren, deren Prestige am Wahltag am wenigsten auf dem Spiel steht: Grüne und Kommunisten. Einen Gegenentwurf zur EG-Integration a la Delors sucht man in den Wahlbroschüren der beiden Parteien vergeblich. So wird das Ungemach der EG -Skeptiker womöglich in ganz andere Kanäle fließen: Frankreichs Jäger haben eine „Europäische Liste für die Freiheit von Fischfang und Jagd“ präsentiert und wollen sich die seit der Revolution erworbenen Jagdrechte weder von Tierschützern wie Brigitte Bardot noch von Brüssel nehmen lassen.

Italiens gute Vorsätze

Im Nachbarland Italien steht es nicht besser mit der Euro -Euphorie. Hören wir nur Sandro Salvadori, Ortsvorsitzender der Kommunistischen Partei in der Provinz Latina: „Die können mich alle mal mit ihrem Europawahlkampf. Ich pinkel die Rathauskoalition und ihre neuen Steuern an.“ Gesagt getan. Seit die von der Stadtratsmehrheit beschlossenen neuen Steuern durchkamen, hängen in Terracina neben den feingestylten Plakaten „Für ein grünes Europa der Arbeiter“ und den noblen Namen der international gemischten Listenführern weiße Manifeste mit Schimpfkanonaden. Von Europa keine Rede mehr.

So wie in Terracina ist die Euro-Stimmung in vielen Städten Italiens jäh gekippt: Seit die Regierungskoalition des christdemokratischen Ministerpräsidenten De Mita (mit Sozialisten, Republikanern, Liberalen und Sozialdemokraten) auseinandergebrochen ist, hat sich der Euro-Wahlkampf um 180 Grad gedreht, und nationale, regionale und kommunale Themen stehen plötzlich wieder ganz im Vordergrund.

Dabei hatten sich die Italiener, in ihrem Selbstverständnis noch stets die überzeugtesten „Volleuropäer“ (so die letzte Umfrage des 'L'Espresso‘), ganz auf einen Wahlkampf mit internationalen Themen eingestellt: die Kommunisten mit ihrer Neuentdeckung der Ökologie, die sie nun weltumarmend allüberall vor die arbeitsplatzsichernde Politik stellen wollen; die Christdemokraten, denen eine Art ökumenischer Neohumanismus am Herzen liegt, der auf ihren Plakaten durch einen possierlichen weißen Wal symbolisiert wird; die Sozialisten (PSI), die sich von den Hardlinern anderer Länder Unterstützung für ihren einsamen Kampf zur Kriminalisierung Drogensüchtiger erhofft hatten; die in einer Liste vereinigten Republikaner, Liberalen und Radikalen, die bei den Europawahlen - seit jeher auch Experimentierfeld für neue Konstellationen - einen nichtideologischen, „laizistischen“ Pool probelaufen lassen wollten.

Der „Schutz der Eigen-Arten vergessener Regionen in einem geeinten Europa“ (Grüne) stand ebenso auf der Tagesordnung wie die „Internationalisierung des Proletariats“ (Democrazia Proletaria), die „Öffnung der Grenzen auch nach Europa hinein“ (Sozialdemokraten) ebenso wie die „Abkoppelung von den USA“ (Neofaschisten).“

Doch nun ist alles anders: weil De Mita seinen an sich für die Zeit nach den Wahlen angekündigten Rücktritt nach heftigem (keineswegs sachlich gerechtfertigten) Streit mit Partner Bettino Craxi vom PSI vorgezogen hat, stehen fast nur noch innenpolitische Themen im Vordergrund, speziell die Auseinandersetzung um die von Craxi gewünschte Verfassungsreform. Die würde in Wirklichkeit den Übergang zu einer anderen Republik bedeuten, mit einem vom Volk direkt gewählten Staatspräsidenten nach de Gaulleschem Vorbild. Das hat zwar keine Aussicht auf Erfolg - lediglich die Neofaschisten sind dafür -, zwingt aber dem Wahlkampf eine Komponente auf, die speziell die Oppositionsparteien (Kommunisten, Demoproletarier, Grüne) schädigt. Denn weil Craxi die Verfassungsreform zur Bedingung für eine neue Koalition macht (und ohne ihn geht rechnerisch nichts, sieht man von einer derzeit unwahrscheinlichen Großen Koalition Christdemokraten und Kommunisten ab), spielt sich der Streit vor allem innerhalb der Regierungsparteien ab. Die bekommen damit aber naturgemäß viel mehr Aufmerksamkeit als alle anderen Parteien - und das zahlt sich in Stimmen aus. Der Fünfparteienblock wird aus der Wahl am Sonntag wohl insgesamt gestärkt hervorgehen, auch wenn sich intern die Gewichte etwas verschieben.

Kein Wunder, daß sich die Wasserträger der Parteien mit all ihren Europa-Vorbereitungen ziemlich verschaukelt vorkommen. Und die Idee Salvadoris, wenn schon kein Euro-Wahlkampf, dann auch ohne all die Heroen der Parteilisten und lieber bürgernahe kommunale Themen hervorkramen, setzt sich mittlerweile auch in anderen Gruppen, vor allem bei den Grünen durch.

Die EG-Idee funktioniert, das zeigt gerade die italienische Wahlkampf-Wende, offensichtlich nur, wenn gutes Wetter herrscht und keine nationalen Störfälle auftreten. Ansonsten scheint der Griff zu hautnahen Themen und zum Lokalgeraufe den Wahlkampfmatadoren eben doch sicherer als jeder noch so schöne Traum von den zwölf Sternen.

Georg Blume / Werner Raith / smo