Akzeptanzschub

Das Europaparlament hat jetzt rechnerisch eine linke Mehrheit  ■ K O M M E N T A R E

Maggie Thatcher hat zwar arg übertrieben, als sie die Rückkehr des Marxismus über Brüssel nach Großbritannien prognostizierte. In der Tendenz lag sie jedoch durchaus richtig: Das Europaparlament verfügt jetzt über eine orange -grün-rote Mehrheit. Diese Mehrheit sorgt durch ihre schiere rechnerische Existenz für einen so bedeutenden Akzeptanzschub zugunsten der europäischen Integration, daß darüber auch die geringe Wahlbeteiligung an Bedeutung verliert.

Die Gruppe der NichtwählerInnen hat bei dieser Wahl gegenüber 1984 sogar noch zugelegt und rund 41 Prozent erreicht. Dieses Ergebnis könnte zunächst als Beleg dafür dienen, daß die geringe Bedeutung des Europaparlaments durchaus angemessen bewertet wurde: mit einem bewußten politischen Boykott großer Teile der westeuropäischen Bevölkerung gegen die vordemokratischen Zustände in der EG oder gar gegen die EG selbst. Doch zwei Gründe sprechen dagegen. Zum einen ist eine ganze Reihe von ausgesprochen EG -kritischen oder gar -feindlichen Abgeordneten nach Straßburg gewählt worden. Zum anderen werden die EG -Integration und der Binnenmarkt weithin schlichtweg unterschätzt. Wem, aus welchen Gründen auch immer, die EG egal ist, der ist noch nicht notwendig gegen sie.

Wer aber in Brüssel den politisch-bürokratischen Apparat für das Europa der Konzerne entstehen sieht, muß nach dieser Wahl Abschied von einer bequemen Homogenität nehmen: daß ein machtloses Parlament auch noch von einer konservativen Mehrheit dominiert wird. Durch die Verschiebung nach links hat sich schlagartig der Kreis der Interessenten für die Teilnahme an der politischen Macht erweitert.

Die geringe Bedeutung des Europaparlamentes war bislang das größte politische Legitimationsdefizit der EG. Doch die Zeiten sind vorbei, in denen sich Kommission, die zwölf Regierungen und die nationalen Parlamente sporadisch Gedanken über eine Aufwertung des Europaparlamentes machen konnten. Wenn sie es geschickt anstellen, kommt der Drive dazu in Zukunft von den westeuropäischen Sozialdemokraten die auch gleich für sich geltend machen werden, den Binnenmarkt sozialverträglich zu gestalten.

Und so zieht ausgerechnet der Protagonist der EG -Integration den größten Nutzen aus dieser Wahl: Kommissionspräsident Jacques Delors, der, selbst das Parteibuch der französischen Sozialisten in der Tasche, im kommenden halben Jahr die französische Präsidentschaft im Rücken und eine schwer angeschlagene Maggie Thatcher vor sich haben wird. In dieser Konstellation ist die nachholende Demokratisierung Brüssels unter sozialdemokratischer Hegemonie ein sicherer Weg, die Akzeptanz der EG nach der Wirtschaft auch in der Politik durchzusetzen. Den Integrationsprozeß zu verlangsamen oder aufzuhalten, ist durch die neue Mehrheit in Straßburg eher schwieriger geworden.

Dietmar Bartz