„Was wir hatten, entsprach dem Willen des Volkes“

Der Oberkommandierende der unter Imre Nagy gebildeten ungarischen Nationalgarde, Bela K.Kiraly (77), der nach dem Einmarsch der Sowjets zum bewaffneten Widerstand aufrief, zur Vergangenheitsbewältigung in Ungarn  ■ I N T E R V I E W

General Kiraly gilt als der große noch lebende Akteur des Oktoberaufstandes. In diesen Tagen wurde er wie kein zweiter in Budapest gefeiert. Zusammen mit Miklos Vasarhelyi (Informationsminister unter Nagy) und Sandor Racz (Vorsitzender des Revolutionären Arbeiterrates) zählt Kiraly zu den berühmtesten der noch lebenden Politiker der Regierung Imre Nagy, der jetzt am 16.Juni feierlich geehrt wurde.

taz: Herr Kiraly, nur knapp entkamen Sie durch Flucht ihrem Todesurteil. Doch ihre Freunde Nagy, Pal Maleter und Geza Losonszy wurden gehängt. Sie waren bereits im amerikanischen Exil und konnten nichts mehr gegen die barbarischen Urteile unternehmen. Wie fühlen Sie sich, nach 32 Jahren, erstmals wieder in der alten Heimat?

Kiraly: Mit einem Wort: „It is wonderful.“ Es ist für mich unfaßbar.

Belastet Sie bei ihrer Rückkehr nicht die Vergangenheit?

Zwei Jahre nach dem Aufstand, am 16.Juni 1958, wurden meine Freunde auf schreckliche Weise hingerichtet. Damals schwor ich mir, die Staatsgrenzen Ungarns nicht mehr zu betreten, solange das ungarische Volk nicht das Recht zugestanden bekommt, die Märtyrer des Aufstandes ehren zu dürfen.

Und dieser Tag ist nun gekommen?

Ja, der 16.Juni 1989 ist ein geschichtlicher Wendepunkt ein Symbol zu einer demokratischen und freien Entwicklung. Und wie Sie sehen, ich bin dabei (er lacht). Aber wenn ich ehrlich bin, hätte mich jemand vor einem Jahr, auch noch vor sechs Monaten gefragt, ob ich je wieder meine Heimat sehen werde, ich hätte ihn als einen Spinner bezeichnet. Daß sich diese politische Finsternis, dieses repressive System endlich in einem neuen Licht zeigt, das liegt ja erst drei Monate zurück.

Wenn Sie auf die stürmischen Ereignisse des Oktober 1956 zurückschauen, glauben Sie auch heute noch, ihre Reformen waren richtig und kamen zur rechten Zeit?

Absolut alles, was wir damals taten, würde ich heute wieder tun. Aber wir waren nicht der Zeit voraus, wie manche es verschönernd darstellen. Wir hinkten der Zeit hinterher. Die Reformen, die wir einleiteten, wären schon 1945 nötig gewesen und nicht erst 1956. Wir begannen zu spät, die Geheimpolizei von Halunken zu säubern, die Stalinisten aus der Partei rauszufeuern. Aber als wir uns an die Arbeit machten, erbauten wir doch auf den Ruinen des alten, verkommenen Systems ein demokratisches Parlament, Arbeiterselbstverwaltungen in den Fabriken, demokratische Einrichtungen in den Dörfern, Schulen und Armee-Einheiten. Und wir sahen, was wir taten, entsprach dem Volkswillen. Die Parlamentsentscheidungen, es gab ja kurz ein Mehrparteiensystem, reflektierten den Willen des Volkes. Alles funktionierte demokratisch und erfolgversprechend.

Wie denken Sie jetzt über die kommunistische Partei?

Die Impulse zu den Reformen kamen nicht von ihr, sondern entstanden auf Druck der demokratischen Opposition. Wobei es stimmt, daß sich jetzt Reformer zeigen, wie Pozsgay und Nyers. Ich glaube, denen kann man vertrauen, und die werden der kommunistischen Partei eine neue Rolle zuweisen.

In letzter Zeit wird in den Medien oft das angeblich letzte Wort von Nagy vor seinem Tod zitiert, wonach er gesagt haben soll, nichts fürchte er so sehr, als von seinen Mördern einmal als Märtyrer verehrt zu werden.

Imre Nagy hat solche Worte nicht geäußert. Er sagte vor seiner Hinrichtung: „Ich ersuche um keine Gnade und Milde. Ich stehe auf der Seite des ungarischen Volkes und der internationalen Arbeiterbewegung, und für beide bin ich bereit zu sterben.“ Das waren Worte eines wirklichen Staatsmannes, und was wir brauchen, sind neue Leute wie ihn, sonst ändert sich gar nichts in Ungarn.

Interview: Roland Hofwiler (Budapest)