DIE VERTREIBUNG AUS DEM KIRSCHGARTEN

■ Ein neuer Tschechow von Peter Stein an der Schaubühne

Wenn im Schlußbild des Kirschgarten erst die Fensterläden vorgelegt, dann die Türen abgeschlossen werden und schließlich die Bühne minutenlang leer und verlassen ist, dann ist es die gleiche wunderschöne, melancholische, aber etwas kitschige Lichtstimmung, als wenn mediterranes Sonnenlicht durch heruntergelassene Jalousien fällt und auf cremefarbenen Überzügen seine Streiflichter hinterläßt. Eine optische Falle, denn letztendlich geschieht das, wovon die ganze Zeit die Rede war - das Abholzen des Kirschgartens. Und so sieht man im Hintergrund kräftige Bühnenarbeiter in Hemmingwayscher Manier die Äxte schwingen, hört, wie die widerhallenden Schläge die Stille zerstören und wie schließlich durch ein brutal zersplittertes Fenster, in das ein hohler Kirschbaum hineinstürzt, endgültig der sinnlich -dekadenten Todesstimmung im Raum ein jähes Ende bereitet wird.

So inszeniert Peter Stein das, was den Kirschgarten von den Drei Schwestern, mit denen er unvermeidlich verglichen wird, unterscheidet, die endgültige, fast radikale Leere, die nie auch nur durch den Schimmer einer Hoffnung oder Sehnsucht nach etwas Zukünftigem („Nach Moskau!“) bemäntelt wird. Denn schon zu Beginn des Stücks ist entschieden - und dies ist so unverständlich klar, daß man sich fast an das nutzlos menschliche Bemühen in der griechischen Tragödie erinnert fühlt -, daß der Kirschgarten verkauft werden muß. (Diese bürgerlich-neurotischen Verdrängungsmechanismen mit dem Einweihungskult des griechischen Theaters zu vergleichen, zeugt von einer immensen Unkenntnis des wahren Charakters des griechischen Theaters. Wenn man schon Vergleiche anstellt und sich besonders gebildet zeigen will, sollten diese zumindest stimmen. Empfehle Dir einen Altgriechisch-Kurs an der VHS! d.S.) Die alten Bäume werden gefällt, und das Land in kleine Parzellen unterteilt, die gewinnbringend an Sommerfrischler aus der Stadt vermietet werden. Denn der Garten trägt sich nicht mehr. Keines der Familienmitglieder macht im Verlauf der vier Akte auch nur den geringsten Versuch, diesem drohenden Verlust des Guts etwas entgegenzusetzen. Völlig passiv und seltsam apathisch, gänzlich ohne Widerstandskraft, nimmt man den Schlag hin.

In Peter Steins Inszenierung vom Kirschgarten wird plötzlich deutlich, warum diese russische Adelsschicht so ist. Der ganze maßlose und betörende Einsatz von atemberaubenden Bühnenbauten (Christophe Schubiger), wunderbaren Kisten, Kasten und Koffern, die man allerdings nie auf einer Reise mitschleppen möchte (Requisite: Angelika König und Karen Kipphoff), dem stimmigen Licht, das vom heraufdämmernden Morgengrau und Sonnenaufgang über den kitschigsten aller Sonnenuntergänge und einer prunkvoll pompösen Ballbeleuchtung bis hin zum fahlen Oktoberlicht der Abschiedsstimmung (Wolfgang Göbbel) reicht, über die herrlichen und sicher lupenrein stilsicheren Kostüme (Moidele Bickel) bis hin zur Musik (Peter Fischer) des kleinen jüdisch-russischen Bühnenorchesters, all dieser maßlose und sich leicht verselbständigende, detailversessene und „Authentizität“ vorspiegelnde Theaterzauber kann in dieser Inszenierung wortlos vorführen, warum diese adligen Gutsbesitzer nicht vernünftig wirtschaften, sondern haltlos verschwenden.

Von Gajew (Peter Simonischek) dem Bruder der Gutsbesitzerin, heißt es im Text, er habe sein Vermögen in Form von Bonbons aufgelutscht. Sie selbst, die Ranewskaja, hat fünf Jahre lang in Paris mit einem unwürdigen Liebhaber gelebt und sich von diesem ausnutzen lassen. Und kaum ist sie im ersten Akt auf ihrem Gut, das nach dem Kirschgarten heißt, angekommen, hat von dem vernünftigen Kaufmann Lopachin (Michael König) gehört, aber nicht wirklich zur Kenntis genommen, wie es um die Finanzen steht, nämlich so schlecht, daß die Versteigerung zu erwarten ist, da langweilt man sich schon während des zweiten Aktes auf dem Lande so gekonnt und ausgiebig, daß im dritten Akt unbedingt ein Ball gegeben werden muß. Denn man will vergessen, beim Tanzen in der euphorischen Bewegung sich selbst, und beim Zaubern, das die aggressive Gouvernante Charlotte (Elke Petri) vorführt, in der gemeinsamen Illusion den Verstand.

Diese Tanzveranstaltung erinnert in Steins Inszenierungsstil an die Ballnacht in Viscontis Breitwandverfilmung von Tomasi di Lampedusas Der Leopard. Hier bietet das schwülstige und abgenutzte Rot des Ballsaals mit den erhitzten, fellinesken Polkatänzern den kontrastierenden Hintergrund für einen verzweifelten Zusammenbruch. Und durch die Tanzmusik wird auch das bei Tschechow herrschende Prinzip der Melodiosität überdeutlich. Stein, dessen Spezialität eh die Inszenierung von chorischen Massenszenen ist, läßt hier den im vorderen Durchgangsraum spielenden, sowohl monologischen als auch dialogischen Ausbruch der Ranewskaja durch die Dynamik der Musik und der von hinten vorpreschenden, sich zurückziehenden, lachenden und klatschenden Tänzer kommentieren. Ist das Tschechowsche Gespräch aus lauter unbedeutenden Dummheiten sowieso eher als ein musikalischer Wechselgesang gedacht, so steigert sich bei der Bekanntgabe der endgültigen Versteigerung die Dramatik der Rede und Gegenrede zu einem musikalischen Gewitter.

So arbeitet die Regie immer mit Gegensätzen, um die Atmosphäre, das wortlose Warum, die Sinnlichkeit und Haltlosigkeit der Gesellschaft im Kirschgarten herauszuarbeiten. Aber nicht nur die Theatertechnik wird erneut zu Schaubühnen-Spitzenleistungen getrieben, auch die Figurenzeichnung selbst spitzt sich zu, übertreibt und dramatisiert wo nur möglich. Da gibt es den jungen Lakai Jascha, einen herzlosen Lackaffen, der sich für unwiderstehlich und sonstwie gebildet hält, weil er in Paris die große weite Welt gesehen hat. Roland Schäfer spielt diesen geschniegelten Jascha mit solch einer Verve und so viel absurder Slapstick-Komik, die all seine angeberischen Posen - mit Vorliebe bläst er dem in ihn verliebten, ewig fächelnden und sexual-neurotischen Stubenmädchen Dunjascha (Helga Pedross) Zigarrenrauch ins Gesicht - entlarvt und dabei das ganze arrogante Getue ins Lachhafte steigert und ins Leere laufen läßt. Aber auch die anderen Figuren wirken überdreht. Der Kontorist Jepichodow, schon im Stück Zweiundzwanzig Mißgeschicke gerufen, wird von Gerd Wameling mit nach hinten abgespreizten Armen, hilflos in knarrenden Stiefeln steckend und in einen absurden „Zustand des Geistes versetzt“, bezeichnenderweise das Billardqueue zerbrechend und stolpernd, über jede sich bietende Gelegenheit zu einem russischen Jacques Tati.

Tschechow, so kann man nachlesen, hatte sich über Stanislawskis schwerblütige oder doch zumindest elegische Uraufführung, über den Mangel an Komik beschwert - bei Stein kann er noch aus dem Grabe mitlachen. Und gleichzeitig ist der Kirschgarten sein letztes und resignativstes Stück. Er zeigt eine Gesellschaft von Adligen, von denen man häufig nicht recht zu sagen weiß, ob sie wirklich noch leben oder nur so tun, die ganz offensichtlich ihre Existenzberechtigung als führende Klasse verloren hat. Die Figuren im Stück dagegen, die noch am ehesten den gesellschaftlichen Fortschritt repräsentieren könnten, zeichnet Tschechow seltsam blaß, gleichsam ohne liebenswerte Eigenschaften. Die ideologischen Phrasen des ewigen Studenten Trofimow (Udo Samel) sind optimistisch vorgebracht - wie im Gegensatz dazu Werschinin das hohe Lied der Zukunft und der Arbeit in den Drei Schwestern singt, daß sie kaum ihn selbst, geschweige denn seine Zuhörer im Kreise der Gesellschaft zu überzeugen vermögen. Alles in allem eine traurige Figur, der die Haare ausgehen.

Eigentlich geschieht während der vier Akte gar nichts, und alles Reden, das selbstverständlich für Tschechow, wenn es denn überhaupt an jemanden gerichtet ist, ein Aneinandervorbei-Reden ist, ist nostalgische Erinnerung an die Vergangenheit, hat kaum noch Inhalt oder Gedanken, sondern ist mehr Melodie und Nachhall. Kurz vor dem Ende des zweiten Aktes, als alle weniger in Gedanken als in die eigene Leere versunken da sitzen, hört man einen seltsamen Ton, ein eher unwirkliches Klirren oder Sirren, als ob in großer Ferne etwas zerspringt. Erst dieser „Mißton“ macht die Stille, das Schweigen und das Nichts, das im Kirschgarten herrscht, hörbar. Am Ende des Stücks, wenn das Schicksal des Kirschgartens unabänderlich seinen Lauf nimmt, und klar wird, daß eine Zeit zu Ende geht, erklingt dieser Ton noch einmal, aber nun wissen wir ihn zu deuten. Es ist der Riß, der durch die Welt geht.

Der 87jährige Diener Firs (Branko Samarowski) brummelt fast schon autistisch seine Weisheiten vor sich hin, schlurft langsam wie ein zeitzerteilendes Metronom über die gewaltige Breite der Bühne und spricht abschätzig-negativ von der Zeit, „als die Freiheit kam“ (gemeint ist die Aufhebung der Leibeigenschaft aus dem Jahr 1861) wie von einer Naturkatastrophe, die er für sich persönlich auch ignoriert hat; er ist bei seiner Familie geblieben und dient hier noch wie eh und je. Firs wird sich konsequenterweise im letzten Bild zur Ruhe legen und in dem verlassenen Haus sterben.

Diese Geisteshaltung, bei Firs seinem Alter zuzuschreiben, dieser Mangel an Zukunft oder, wie es Farncis Fergunson nennt, das „Leiden an der Veränderung“ ist bei den anderen Figuren eine desaströse: statt Einsicht in die Notwendigkeiten unermeßliche Amüsiersucht. Die schöne, leichtlebige Gutsbesitzerin allen voran. Jutta Lampe spielt diese weibliche Hauptrolle mit soviel Sympathie, daß man sich zu sorgen beginnt, was sie wohl tun wird, wenn sie in Paris letztlich ihr ganzes Geld durchgebracht hat.

Zu bedauern ist nur, daß ihr vom Text und der Besetzung her niemand einen Gegenpol bieten kann und Peter Stein die Zuschauer für lange technische Umbaupausen auf die Straße schickt und uns seinen Kirschgarten nicht im Ganzen sehen läßt, sondern ihn schon vor dem Verkauf zerstückelt und zerteilt.

Susanne Raubold