Wie Canettis „Blendung“

■ Sinologen trafen sich zum nachdenken / Perspektiven durch die Ereignisse in China zerstört / Mit den Zielen der chinesischen Bewegung „auseinandersetzen“

„Meine Lebensperspektive hat sich vollkommen geändert“, sagt die kleine mollige Frau. „Ich will nicht mehr nach China. Was soll ich denn dort? In einem Ausländerghetto leben?“ Sie gehört einer Berufsgattung an, von der die meisten vor vier Wochen noch gar nicht wußten, daß es sie gibt, und selbst die Betroffenen nicht wissen, was sie damit tun sollen. Sie ist Sinologin - ausgebildete Chinawissenschaftlerin.

„Die Ereignisse der letzten Wochen in China machen ein erneutes Auseinandersetzen mit diesem Land notwendig“, hatte es in einem Aufruf der Berliner Chinaexperten geheißen, der mit einer Einladung in ein Weddinger Kneipenhinterzimmer verbunden war. „Diese Auseinandersetzung ist für engagierte SinologInnen und alle diejenigen, deren Existenzgrundlage von China abhängt, besonders wichtig“, war eindeutig formuliert, was das Hauptthema des Abends sein sollte. Ob nämlich die akademischen Reiseleiter auch weiterhin guten Gewissens Pauschaltouristen zu den Plätzen in der chinesischen Hauptstadt geleiten können, wo Wochen vorher Studenten massakriert wurden.

Es wäre keine Sinologenversammlung gewesen, hätte logische Argumentation die Diskussion bestimmt. Was als Auseinandersetzung angekündigt und als Zusammensetzung geplant war, endete in Auseinandersetzungen. Unklarheit bestand bei den studierten Chinakennern darüber, was der größte Devisenbringer ihres Studienobjektes sei. Da ohnehin über lange Zeit kein Student aus der Volksrepublik anwesend war, widmete man sich der Lieblingsbeschäftigung der chinesischen KP - „Klassenkampf“. Wenn auch im beschränkten Sinne. Schier endlos war die „unmögliche Chinaberichterstattung“ dieser Zeitung ein Grund für allerhand Humoresken. Dann rückte die Frage in den Mittelpunkt, ob denn der Bochumer Sinologe Helmut Martin nun der „führende Sinologe“ der Bundesrepublik sei. Vielmehr, daß er das nicht mehr sei, so wie er sich in der taz geäußert habe. Gemäkelt wurde vor allem auch über den Standard der Sinologen in der Stadt. All das brachte zwar volle Aschenbecher, aber keine Klärung. Hoffnung besteht, dies bei einem zukünftigen Treffen nachzuholen.

Bald wurde nämlich vertagt. Mit der Auflage: „Alle sollen sich Gedanken machen.“ Schade, denn gerade hatten sich einige Dabettenredner zum Kern des Abends durch -geirgendwiet. Wer nämlich noch nach China reisen will, sei es als Reiseleiter oder für einen Studien- oder Forschungsaufenthalt. Sicherlich die entscheidende Frage. Denn nicht nur lebt ein Großteil der Sinologen von dem Touristengeschäft, sondern viele sind durch familiäre Bande oder Freundschaften an das Land von Deng Xiaoping gebunden.

Aber wer Elias Canettis Blendung gelesen hat, erahnt das Ende. Es wurde grausam. An politischen Perspektivdiskussionen boten die Chinafachleute so gedankliche Glanzlichter wie „Man müßte erst mal darüber reden, ob es der wahre Kommunismus ist, was Deng Xiaoping da macht.“ Vielleicht war es ja auch nur die regionale Nähe zum Stammtisch. Aber knapp zwei Wochen nach dem Massaker wollte ein Landeskenner noch klären, „was denn die Studenten mit Demokratie gewollt haben“. Als wäre das so schwer zu verstehen nach dem Blutbad. Ein kleiner dicker Buchhändler sorgte deshalb für die menschliche Seite. Er wollte wissen, welche Möglichkeiten denn jetzt bestünden, „da jemand rauszuholen“. Seine Bücher kämen nämlich schon nicht mehr an. Das hatte freilich schon eine liberale Hamburger Wochenzeitung vom Vortag geklärt. Gar keine. Die Grenzen Chinas seien dicht, hatte es da geheißen. Aber wie so oft hinken eben die schönen Künste und die Wissenschaft hinter dem Journalismus her - zeitlich zumindest. Das gilt aber leider nicht für den Geschäftssinn. Der junge Mann hatte gleich nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz in Peking sein Firmenkonto zum Spendenkonto umfunktioniert.

Je später der Abend, desto mehr verstärkte sich bei dem Chronisten der Eindruck - übrigens auch ein Sinologe -, daß der akademische Höhenflug über 5.000 Jahre studierte Geschichte und ebensovielen Schriftzeichen mitunter sehr in die Tiefe drücken muß. Zum Glück erlöste ein Vertreter der chinesischen Studentenschaft die Sinologen daraus. Er ließ durchblicken, daß seine Kommilitonen unter dem Eindruck von Spitzeln und Vertretern der Botschaft über weitere Formen des Protestes gespalten seien. Kein Wunder: Einigen steht bald die Heimreise bevor, wenn sie kein politisches Asyl erhalten. Hier sei bald die Hilfe der Sinologen im Einzelfall gefragt. Die Mehrzahl der chinesischen Studenten propagiere aber immer noch einen Wirtschaftsboykott gegen China, ließ er durchblicken. Aber wie gesagt: die Diskussion wurde erst mal vertagt.

Jürgen Kremb