„Wolfsphase des Kapitalismus“ an der polnischen Odermündung?

Mit zollfreien Zonen und Privilegien will Stettin ausländische Investoren locken / Planer nehmen auch Härten in Kauf / Haupthindernis ist die miserable regionale Infrastruktur  ■  Aus Stettin Klaus Bachmann

Es sei eigentlich gar kein richtiger Streit gewesen, spielt Augustyn Nowaczek, der Chef des Planungsamtes der Wojewodschaft von Stettin, den gerade beendeten Grenzstreit zwischen Polen und der DDR herunter. Die beiden Nachbarn hatten sich vor kurzem darauf geeinigt, daß die Fahrrinne zum Hafen der polnischen Stadt Stettin (Szczecin) zur DDR gehört, polnische Schiffe aber freien Transit haben. Nowaczek ist anzumerken, daß ihm unangenehm ist, wie der Streit mit den Plänen für eine zollfreie Zone in Stettin zusammenhängt. Igor Jagniszczak, der Direktor der Stettiner Meereshochschule, sah es noch vor kurzem ganz einfach. „Solange der Streit andauert, dürfen wir nicht in die Oderbucht investieren“, befand der Professor. Genau aber das wurde die ganze Zeit über getan, und genau das war auch der Grund, warum Stettiner Wirtschaftskreisen der Grenzstreit zur Unzeit kam und sie darauf bedacht warten, ihn herunterzuspielen.

Auch wenn die Störungen in der kommerziellen Schiffahrt gering waren, schon allein das Gefühl der Unsicherheit, der Geruch eines Skandals war es, der ausländische Interessenten womöglich davon hätte abhalten können, sich näher mit den ehrgeizigen Konzeptionen der Stettiner Wirtschaftsplaner zu befassen. Denn in und um Stettin soll nach dem Willen der Wirtschaftsplaner eine besondere Wirtschaftszone entstehen, die sich, so erklärt Nowaczek, aus drei Elementen zusammensetzen soll: zollfreie Zonen sollen Investoren anlocken, in einer Zone „intensiven Wirtschaftens“ soll die Infrastruktur für Anleger entstehen, und zugleich sollen im Rahmen eines Versuchsprogramms zahlreiche Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, die bisher ausländischen Investoren ein Engagement in Polen verleideten.

In der ersten Phase, die aufgrund einer bereits fertigen Ministerratsverfügung in diesen Tagen anläuft, werden zahlreiche Gebiete von Stettin über Swinoujscie, Kolobrzeg bis Darlowo zu zollfreien Zonen erklärt. Die Zonen werden von Aktiengesellschaften verwaltet, in denen Staatbetriebe die Mehrheit halten. In Stettin sind dies vor allem der Hafen, die Reederei, die Wojewodschaftsbehörde und Polens größte Spedition. Auch Privatleute können Anteile erwerben. Der Nominalwert einer Aktie beträgt eine Million Zloty, was ungefähr dem Jahreseinkommen eines polnischen Durchschnittsverdieners entspricht. Verkauft werden die Aktien allerdings zum Kurs von fünf Millionen. Die Gesellschaft stellt interessierten Anlegern die Infrastruktur der Freihandelszonen zur Verfügung.

Jan Stopyra, Vizevorsitzender der Gesellschaft „Freihandelszone“, beschreibt das Projekt als eine Art Entwicklungsprogramm für die Küstenregion: „Wir wollen damit vor allem westliche Anleger ansprechen.“ Die können fortan Maschinen und Rohstoffe unbegrenzt zollfrei in die Zonen schaffen, dort unter Ausnutzung der niedrigen polnischen Löhne produzieren und anschließend ihre Produkte wieder ausführen - wiederum zollfrei. Wenn es sich bei der Produktion um Waren handelt, für die Polen keinen Zoll erhebt, kann auch für den polnischen Markt produziert werden, und dies sogar - mit spezieller Genehmigung des polnischen Finanzministers - gegen konvertible Währungen. In einem weiteren Schritt, versichert Stopyra, sei auch geplant, die westlichen Investoren ihren Gewinn in Zloty ins Ausland transferieren zu lassen. Das ist bisher noch untersagt und eines der Haupthindernisse für westöstliche Gemeinschaftsunternehmen.

Immobilien werden Ausländer auch innerhalb der Freihandelszonen nicht erwerben können, und das nicht nur aus wirtschaftspolitischen Gründen. „Wir verkaufen keine polnische Erde“, formuliert Stopyra das heikle Verhältnis Polens zu seinen Westgebieten. Nur Pacht ist möglich, und sei es auch auf 99 Jahre mit Erbrecht. Bisher gebe es bereits „bedeutendes Interesse“ von Investoren aus West -Berlin, Skandinavien, der BRD, den USA und Japan. Betriebe aus der Papierbranche, der Chemie und Petrochemie wie auch aus der Metallverarbeitung, der Elektronik und der Autoindustrie hätten Interesse angemeldet.

Um den nötigen Unterbau im Dienstleistungsgewerbe zu schaffen, sollen rund um die Zonen private Kleinbetriebe mit speziellen Vergünstigungen angesiedelt werden. Aber nicht nur seriöse Interessenten melden sich: Gebrauchtwarenhändler und selbst ein Zwischenhändler für Giftmüll haben sich von der alles kontrollierenden Aktiengesellschaft bereits eine Abfuhr geholt. Denn wer in die Freihandelszone eingelassen wird, entscheidet allein die AG Freihandelszone. Der liegt wenig an kleinen Händlern, viel dagegen an großen Fischen. „Wir wollen natürlich aus der Vermietung der Infrastruktureinrichtungen Gewinne erzielen“, beginnt Nowaczek damit, die Ziele des Projekts aufzuzählen. „Neue Technologie nach Polen holen, die wir aus eigenen Kräften nicht beschaffen oder anwenden können, unseren Arbeitern bessere Verdienstmöglichkeiten schaffen und die Produktion für den heimischen Markt ankurbeln.“

Geboten werden den Investoren außer finanziellen Vergünstigungen die vorteilhafte Lage der Stadt, die nur zwei Autostunden von West-Berlin entfernt ist, und die Verkehrsverbindungen. Da einstweilen nur der Hafen unter diese Rubrik fällt, die Autobahn veraltet und holprig ist und die internationalen Zugverbindungen sich auf eine Verbindung pro Tag nach Berlin beschränken, soll der Flughafen vor der Stadt zum internationalen Airport werden. Gerade aber die Infrastruktur steht dem Traum vom Silicon Valley an der Oder einstweilen noch entgegen. Die schlechten Telefonverbindungen machen Telefax illusionär, auf Verbindungen ins Ausland wartet man Stunden, die Einrichtung eines Telex-Anschlusses dauert Monate, Eilbriefe ins Ausland oft Wochen. Zur gleichen Zeit, als Nowaczek in seinem Büro über dem Hafen von brachliegenden Wirtschaftspotential seiner Stadt sprach, gab es nicht nur in Stettin, sondern in ganz Westpolen, von der Grenze bis nach Poznan, keinen einzigen Tropfen Benzin an den Tankstellen.

Manchen Stettinern mag inzwischen auch aufgegangen sein, daß ein Wirtschaftswunder an der Küstenregion auch seine Nachteile haben könnte. Dies nicht nur deshalb, weil die Auslandsfirmen bemüht sein werden, soviel als möglich in den Westen zu transferieren - die Produktion für den polnischen Markt ist zumindest einstweilen noch nicht sonderlich profitabel. Je mehr Devisenbesitzer eine polnische Stadt heimsuchen, desto mehr klettern die Preise für knappe Güter, was besonders auf den Wohnungsmarkt von Stettin schon jetzt drastische Auswirkungen hat. Kaum eine Wohnung ist noch für einheimische Währung zu bekommen. Der daniederliegende staatliche Sozialwohnungsbau ist keine ernstzunehmende Konkurrenz, die durch eine höheres Angebot die Preise auf dem Wohnungsmarkt senken könnte. Zugleich werden Preissteigerungen aufgrund des erwarteten Zuzugs von Ausländern auch im Dienstleistungssektor erwartet. Die Polarisierung der Bevölkerung in arme Zlotyverdiener und reiche Devisenbeditzer wird damit noch weiter voranschreiten, begünstigt durch das Währungsgefälle und die Inflation. Schon jetzt entspricht ein Durchschnittseinkommen in der Bundesrepublik drei bis vier polnischen Jahresgehältern.

Im Wojewodschaftsplanungsamt werden Härten in Kauf genommen, „ganz bewußt“, wie Augustyn Nowaczek sagt. „Wir wollen mit der Verteilungs- und Planungswirtschaft Schluß machen, künftig werden Wohnungen wie Waren behandelt.“ Die Stadt hat damit bereits Ernst gemacht und vor wenigen Wochen 28 Einfamilienhäuser zu Preisen von 30 bis 60 Millionen Zloty versteigern lassen. Daß die Einführung des freien Marktes unter den Bedingungen einer Mangelwirtschaft enorme Härten mit sich bringen kann, läßt Nowaczek nicht gelten. Die „Wolfsphase des Kapitalismus“, wie der Warschauer Publizist Stefan Kisielewski diesen Übergang genannt hat, sei notwendig, um die Wirtschaft Polens wieder auf die Beine zu bringen.