Polens Organisationen haben viele Flügel

Wahlen in Polen wirken sich auf das Innenleben der beteiligten Gruppen aus  ■  Aus Warschau Klaus Bachmann

„Mit den Wahlen wurde in unserem Land ein definitiver Schlußpunkt unter die bisherige Art und Weise der Herrschaftsausübung gezogen“, schrieb eine große polnische Wochenzeitung, „nichts wird mehr sein, wie es war.“

Die vierte Republik nehme Gestalt an, schrieb sogar die Parteiwochenzeitung 'Polityka‘. Die zweite Runde der Wahlen, in der hauptsächlich die für die Regierungskoalition reservierten Plätze im Sejm, der 1. Kammer des polnischen Parlaments, besetzt wurden, hat dies bestätigt: In fast allen Wahlkreisen, in denen Solidarnosc-Kandidaten noch einmal antreten mußten, gelang ihnen der Sieg. Mehr noch: Mit Wahlaufrufen und Unterstützungsaktionen für als „liberal“ eingeschätzte Kandidaten der Regierungskoalition, verhalf Solidarnosc zahlreichen der Opposition nahestehenden Kommunisten zum Einzug in den Sejm. Mit Hilfe dieser „U -Boote“, die nicht selten sogar Solidarnosc-Mitglieder sind, wird die Opposition im neuen Sejm das vorher ausgehandelte Kräfteverhältnis möglicherweise sogar entscheidend zu ihren Gunsten verändern können. Jerzy Majka, Chefredakteur der 'Trybuna Ludu‘ bekennt sich zur Niederlage seiner Partei. An die Adresse der Kritiker in den eigenen Reihen, die gerade wegen der Niederlage die Öffnung zur Opposition hin kritisieren, meint er, die Niederlage beweise erst, wie weitsichtig die Öffnung gewesen sei: „Hätte es die vom Zentralkomitee durchgeführte Wende nicht gegeben, hätte sich die Spannung in Konfrontationen auf den Straßen entladen.“ Längst wird nicht nur von der Basis die Einberufung eines außerordentlichen Parteitags gefordert, sondern es werden aus dem Politbüro heraus Stimmen laut, die eine Auflösung der PVAP und die Gründung einer sozialdemokratischen Partei fordern.

Ob damit das Prestige der polnischen Linken aufzumöbeln ist, ist zweifelhaft, selbst Sozialisten, die von Solidarnosc unterstützt wurden, hatten ihre liebe Not mit den Wählern. Das bekam der Leiter der halblegalen oppositionellen sozialistischen Partei, Jan Lipski, zu spüren, gegen den die lokale Solidarnosc-Organisation in Radom einen eigenen Kandidaten aufstellte, der ostentativ von der Kirche unterstützt wurde. Aber auch Solidarnosc hat Probleme: In Stettin trafen sich Vertreter der innengewerkschaftlichen Opposition und forderten eine schnellstmögliche Durchführung der Wahlen zu den Gewerkschaftsgremien und die schnelle Einberufung eines landesweiten Gewerkschaftstages. Solidarnosc-Sprecher Janusz Onyszkiewicz hat aber erklärt, ein Gewerkschaftstag werde erst im Winter stattfinden. Regierungssprecher Rykowsky erneuerte indessen den Vorschlag zu einer „großen Koalition“. Ohne Zusammenarbeit zwischen Regierung und Opposition müsse man mit parlamentarischer Ohnmacht rechnen. Es könne zu einem „Leerkaufen der Regale in den Geschäften und einem Absterben der Hoffnungen kommen.“