Mit Tempo 30 zur friedlichen Koexistenz

■ Die Bändigung des Automobils: Minister Zimmermann contra Deutscher Städtetag / Von Manfred Kriener

Noch vor der Sommerpause will der neue Verkehrsminister Zimmermann die Straßenverkehrsordnung ändern und festschreiben, daß Tempo 30 für spezielle Zonen in städtischen Wohngebieten eingerichtet werden darf. Doch die vorgesehene Verordnung bringt nichts. Weitergehende, flächendeckende Tempo-30-Konzepte werden abgeblockt. Bis in die CDU hinein stößt Zimmermanns Entwurf auf Ablehnung. Auch Töpfers Umweltbundesamt zerpflückte jetzt Zimmermanns Entwurf als Tempo-30-Verhinderungskonzept.

Der ruhmreiche Sieger des Autorennens Paris-Bordeaux, ein Herr namens Levassor, erreichte im Jahr 1895 eine Durchschnittsgeschwindigkeit von exakt 24,4 km/h. Würde der Mann heute in seinem Rennwagen durch unsere Städte zockeln, könnte er heilfroh sein, wenn er durchkäme, ohne von delirierenden Breitreifenchauffeuren als Verkehrshindernis verprügelt zu werden.

Seit 1957 gilt in bundesdeutschen Ortschaften Tempo 50. Auf den Hauptverkehrsstraßen der Städte wird allerdings - wenn sie nicht gerade verstopft sind - in der Regel zwischen 60 und 80 km/h gefahren. Die Polizei hat auch schon Autofahrer mit 237 „Sachen“ erwischt. Im ausgehenden 20.Jahrhundert sind die Sitten locker, die Autos hochgerüstet, die Fahrer gehetzt, die Kontrollen lasch.

In solchen Zeiten wird nun in der Bundesrepublik gestritten, ob innerorts künftig Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit eingeführt werden soll. Alle vernünftigen Leute sind dafür, sofern sie nicht gerade selbst am Steuer sitzen.

1985 war „versuchsweise“ Tempo 30 in eigens ausgeschilderten Zonen für vier Jahre zugelassen worden. Vor allem in Wohngebieten abseits der Hauptverkehrsstraßen sollte das Tempo gedrosselt werden. Viele Städte und Gemeinden machten davon Gebrauch. Die meisten halbherzig und nur in vereinzelten Zonen, andere gingen engagierter und flächendeckender zur Sache - wie Hamburg, Köln oder die Modellstadt Buxtehude. Die Effekte waren für Augen, Ohren, Nasen und Knochen spürbar: Tempo 30

-reduziert den Lärm um die Hälfte

-verringert die Stickoxid-Emissionen um ein Drittel

-dämpft die gehetzten Seelen und damit vor allem das Unfallgeschehen.

In Hamburg registrierte die Polizei in Tempo-30-Zonen einen Rückgang der schweren Unfälle von 16 Prozent. Knapp 20 Prozent weniger Fußgänger wurden angefahren. In anderen Städten gingen die Unfälle laut Autoversicherungsverband HUK sogar um 20 bis 25 Prozent zurück. NRW-Verkehrsminister Zöpel: „Tödliche Unfälle kommen in wirklich verkehrsberuhigten Zonen so gut wie nicht mehr vor.“ Grund genug, um an Tempo 30 festzuhalten.

Das Insel-Konzept

Ende dieses Jahres läuft nun aber die befristete Zonenregelung aus. Für die Zeit danach liegen zwei Vorschläge auf dem Tisch. Minister Zimmermann, der nach Kohls Kabinett-Recycling zufällig im Verkehrsressort landete, will, wie schon sein Vorgänger Warnke, Tempo 30 nur als Ausnahme für besonders ausgewiesene Zonen festschreiben. Inselartig könnten dann hier und da einzelne kleine Wohngebiete ausgeschildert werden. Wie bisher.

Der Deutsche Städtetag verlangt dagegen, Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit in allen Städten und Gemeinden zu machen. Ein echter Einschnitt. Nur auf den Hauptverkehrsstraßen mit der gelben Raute als Vorfahrtszeichen soll dann noch das alte Tempo 50 erlaubt sein. Die SPD- und Rot-Grün-regierten Bundesländer, das Umweltbundesamt und alle Umweltverbände wie Bürgerinitiativen unterstützen den Städtetag (oder fordern noch weitergehende Lösungen). Auch Stuttgarts OB Manfred Rommel und andere CDU-regierte Kommunen wollen flächendeckend Tempo 30. Die Bundesregierung inklusive Umweltminister Töpfer und der ADAC trommeln dagegen für Zimmermanns Marschroute.

Sollte sich Zimmermann durchsetzen, wäre auch die rot-grüne Verkehrspolitik in Berlin und Frankfurt blockiert. Die dort in den Koalitionsvereinbarungen ausgehandelte Tempo-30 -Regelung wäre Gesetzesbruch, denn Zimmermanns Verwaltungsvorschrift fordert, daß Tempo-30-Straßen schmaler als sechs Meter sind und daß innerhalb eines Radius‘ von 1.000 Metern die nächste Straße mit Tempo 50 zu erreichen ist.

„Damit wird jedes flächendeckende Konzept für Tempo 30 unmöglich gemacht“, protestiert der Düsseldorfer Verkehrsplaner Helmut Holzapfel. Und die grüne Verkehrsexpertin Helga Rock sieht „einen Dolchstoß gegen Rot -Grün“.

Herr Minister hat's eilig

Vor allem der Deutsche Städtetag ist sauer auf Bonn. Sein Sprecher Folkert Kiepe kritisiert gegenüber der taz die Eile, mit der das Verkehrsministerium seinen Vorschlag durchboxe. Zuvor versprochene Anhörungen würden nicht durchgeführt, kritische Positionen ignoriert.

Kräftigen Flankenschutz erhielt der Städtetag jetzt ausgerechnet von Töpfers Umweltbundesamt. Während der Bonner Minister himself frühzeitig seine Unterschrift unter den Zimmermann-Vorschlag setzte und damit sein eigenes Amt erneut links liegen ließ, blieb dieses renitent auf Städtetag-Linie und zerpflückte jetzt in einer unnachgiebigen Stellungnahme minutiös den Zimmermann -Entwurf. Wichtigste Argumente:

-Zimmermanns Konzept führe zu einem unübersichtlichen zufälligen Flickerl-Teppich mit nicht einheitlichen, inselhaft verbreiteten Tempo-30-Zonen. Demgegenüber sehe die Städtetag-Lösung eine einheitliche, flächenhafte, bundesweite Umstellung vor, die „auf einen Schlag“ und „über Nacht“ realisiert werden könne und sehr viel wirksamer sei.

-Zimmermanns Vorschlag werde erneut zu einem Schilderwald führen. Um die benötigten Tempo-30-Schilder anzuschaffen, seien 500 Millionen Mark notwendig. Und: „Es kann dennoch leicht passieren, daß der Autofahrer nicht weiß, ob er sich in einer Tempo-30-Zone befindet oder nicht, zumal die Ausführung in jeder Stadt anders sein wird.“

Die Alternative des Städtetags sei einfacher zu merken und garantiere eine höhere Akzeptanz. Dort wo keine gelbe Raute steht, „gilt Tempo 30, und zwar überall in der Bundesrepublik“.

-Die Auswahl nur einzelner Tempo-30-Zonen „werde dem Bürger willkürlich vorkommen. Wieso dort eine Tempo-30-Zone und nicht bei uns?“

Bleibt nur der Revolver?

Doch Zimmermann ist nicht bereit umzuschwenken. Tempo 30 flächendeckend? „Das akzeptieren die Autofahrer nicht“, analysierte der Bayer mit sicherer Ferndiagnose die deutsche Bleifußbefindlichkeit.

Davon sind die Ministerialbeamten der Bundesländer allerdings noch nicht überzeugt. Sie verwiesen vergangene Woche unter dem Eindruck der Kritik den Zimmermann-Entwurf zur weiteren Diskussion in die Ausschüsse zurück. Die schon für Ende dieses Monats vorgesehene Verabschiedung ist damit nochmals aufgeschoben. Sollte die Kontroverse anhalten, könnte sich das Ministerium aber mit einem Trick nochmals Luft verschaffen. „Dann verlängern die einfach die Versuchsphase für die alte Regelung um ein Jahr und damit basta“, prophezeiht ein Zimmermann-Beamter.

Wie auch immer: „Die Wiederherstellung eines Stücks verlorener Zivilisation“ (Klaus Traube) durch die Einführung von Tempolimits ist mit dieser Regierung schwer zu machen. Es stimmt offenbar, daß sich nur eine souveräne und selbstbewußte Gesellschaft langsamere Geschwindigkeiten und die Gemächlichkeit von gelassenen Menschen leisten kann. Tempo 30, heißt es in einem Papier des Bürgerinitiativen -Dachverbandes „Arbeitskreis Verkehr“, wäre der Beginn einer „friedlichen Koexistenz auf unseren Straßen“.

Solange die nicht hergestellt ist, darf man getrost an einen Offenen Brief eines Pariser Bürgers an seinen Polizeipräsidenten aus dem Jahr 1896 erinnern: (...) In der Zwischenzeit gehöre ich zu denjenigen Leuten, die der Auffassung sind, daß es auf den Pariser Straßen keine Sicherheit mehr gibt. Und da ihre Polizisten sich für ohnmächtig erklären, habe ich die Ehre, Ihnen zu erklären, daß ich von heute ab mit einem Revolver in der Tasche ausgehen und auf den nächsten verrückten Hund schießen werde, der mit seinem Automobil die Flucht ergreift, nachdem er drauf und dran war, mich und die Meinen zu überfahren.„