Das Design bestimmt das Bewußtsein

In Berlin wie anderswo hat der postmoderne Lifestyle Einzug gehalten / „Die größten Kritiker der Elche werden später selber welche“  ■  Von Marie-Luise Weinberger

Das Interieur des Restaurants „Hasenburg“ in der Kreuzberger Fichtestraße ist in jenem Stil gehalten, der derzeit hoch in der Gunst des großstädtischen Publikums steht: Die Wände sind hell und kahl, die Tische mit weißem Damast und langstieligen Burgundergläsern gedeckt, das Licht ist matt, und die Bugholzstühle sind selbstverständlich schwarz. Die Bedienungsdamen, die lange weiße Tücher umgebunden haben, passen sich dieser schnörkellosen Atmosphäre an. Sie haben die stumpfgeschnittenen Pagenköpfe aus den ungeschminkten Gesichtern gekämmt und sind von nobler Distinguiertheit. Erhobenen Hauptes schreiten sie - an vestalische Jungfrauen erinnernd - durch die Räumlichkeiten und kredenzen Speis und Trank.

Berlins Feinschmecker geben sich hier ein Stelldichein. Auch der alte und neue Regierende Bürgermeister speisten hier, ebenso etliche SenatorInnen und Bonner Politprominenz. Geschäftsleute feiern ihre Abschlüsse, Theaterschaffende diskutieren Perrier trinkend über den portugiesischen Dramatiker Pessoa. Die linken Lehrer, ehemals studentenbewegt und weltrevolutionär, jetzt frustriert und neu innerlich, erkennt man am lautstarken Lamentieren über „die heute ach so unpolitische Jugend“, die lieber Michael Jackson hört denn „inhaltlich zu diskutieren“.

High-Tech-Gruftie-Show

Dem Gespräch der jungen Damen mit den Mozartköpfen und den dunkelgrauen Kostümen aus allerfeinstem Tuche entnimmt man, daß sie nicht zur Spezies der Leistungsverweigerer gehören, sondern gewillt sind, schnell und erfolgreich die Karriereleiter nach oben zu stürmen. Natürlich ist auch die „Zeitgeist-Fraktion“ versammelt, die sich biertrinkend am Tresen über das Schönste und Neueste austauscht. Der absolute Hit: eine „High-Tech-Gruftie-Show“ in den Schöneberger Katakomben. Was das sei, will die mit dem coolsten Blick Berlins wissen. Die Antwort: Da müsse sie sich schon selbst bequemen, verraten werde nur so viel: Das Glas Schampus kostete 24 Mark, die ausgestellten Designer -Möbel seien „superbequem“ und „superteuer“, es sei „absolut dreckig“ und das Publikum „vollkommen irre“.

Auch Martin, der eine erfolgreiche Designerwerkstatt sein eigen nennt, kommt in die Hasenburg, um sich vom anstrengenden Tagwerk zu erholen. Martin wählt in der Regel das Menü für 78 Mark, das ihm jedesmal allergrößte Gaumenfreude beschert: Geräucherte Wachtelbrust und -keule auf sautierten Austernpilzen, Fasanenconsomme mit kleinen Kräuterpfannkuchen, Hechtklößchen mit Austern gefüllt in Rieslingsauce auf Blattspinat, Sorbet von rosa Pampelmuse, gefüllter Kaninchenrücken und -keule in Pommery-Senfsauce, Käse, Nougatmousse mit glacierten Kapstachelbeeren. Manchmal trifft sich Martin dort mit Markus, einem recht erfolgreichen Taxiunternehmer. Markus trug früher die immer fettigen Haare schulterlang, war Häuserkämpfer und gehörte zur „Staat-hau-ab-Fraktion“ der Berliner Alternativszene. Heute sieht er aus, als würde er in der Vorstandsetage einer mittleren Bank residieren. Der Fa?onschnitt ist gepflegt, der Anzug von Armani, die Brille der derzeitigen Mode entsprechend rot, und das Parfüm identifiziert der Kenner als „Lagerfeld for men“.

Nostalgische

Erinnerungen

Manchmal, nach dem dritten Glas Muscadet, werden die beiden Mittdreißiger nostalgisch, erinnern sich an ihre Sturm- und Drangzeiten: „Weißt Du noch, die Hasenburg vor acht Jahren?“ Da tauchen sie wieder auf, die meist zu später Stunde schwankenden Gestalten. Da war Ilona mit dem schrillen Schwarzwälderisch, eine Feministin, die davon überzeugt war, daß Männer eine Fehlkonstruktion der Natur seien, was sie aber nicht daran hinderte, allabendlich dem starken Geschlecht nachzujagen. Heute besitzt sie eine Wäscheboutique, in der sie die raffiniertesten Seidendessous feilbietet. Wildsau, Netzwerk-Lobbyist, forderte unerbittlich Ablaß für das Selbsthilfeprojekt von den dort zechenden Genossen. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich heute als Verwaltungsangestellter in einem Bundesministerium. Dort, wo der Elch mit dem großen Joint im Maul hing, saß ein stadtbekannter Kolumnist und rief betrunkenen Kopfes nur noch „Tequila, Tequila!“ Fuzzi dichtete Liebesgedichte auf Bierdeckel und rühmte sich, das Perpetuum Mobile erfunden zu haben. „Der frönt heute die Existenz eines akademischen Lumpenproletariers“, weiß Markus zu berichten.

Von der Eckkneipe zum

exquisiten Restaurant

Hinter dem Tresen stand ein Prachtexemplar von Wirt: Alf, dessen Gesicht ein überdimensionaler Schnäuzer zierte, der immer etwas mißmutig wirkte, an sich aber ein gutmütiger Schwabe war und für viele seiner Gäste als Ratgeber in allen Fragen des Lebens fungierte. 1977 eröffnete der gelernte Fotograf die „Hasenburg“ und machte aus der ehemaligen Eckkneipe einen der ersten, natürlich kollektiv organisierten Kreuzberger Alternativbetriebe. Der Fußboden konnte praktischerweise gleich als Aschenbecher mitbenutzt werden, die Wände klebten voller Plakate und politischer Resolutionen, Tische und Stühle waren so richtig schön sperrmüllig und die Toiletten dauernd verstopft. Dauerhaft hielt sich auch das Gerücht: „Alf will dichtmachen.“ Am 1.Juni 1986 war es dann soweit. Der 39jährige Alf-Jörg Lehmann erfüllte sich seinen „Erwachsenentraum“: Chef eines guten Speiserestaurants zu werden. Er lieh sich Geld bei Freunden und Bekannten, lernte Kochen, speckte ab und fand einen Mitstreiter, den Küchenmeister Rainer Mennig. Weihnachten 1986 standen die beiden erstmals in der Küche der neuen „Hasenburg“.

War es nur Alfs Erwachsenentraum, der die neue „Hasenburg“ schuf? Nein, er gibt es unumwunden zu: Es war eine Art von erneutem Erwachsenwerden. „Irgendwann blieb meine Stammkundschaft weg. Die hatten ihr Studium beendet, einen Job gefunden. Die 'Hasenburg‘, wie sie war, sprach sie nicht mehr an. Da habe ich mir gesagt, 'jetzt machst du es!'“ Mit Alf-Jörg Lehmann wurden Teile einer Generation soziokulturell erwachsen, die eigentlich „von der Nutzlosigkeit, erwachsen zu werden“, überzeugt war und nun durch die normative Kraft der Realität eines Besseren belehrt wurde.

Die „Hasenburg“ symbolisiert wie kein anderer Ort einen Wandel in Berlins Problembezirk Kreuzberg: den Wandel vom Alternativen zum Postmodernen. Das neue Kreuzberg liegt im schon immer bürgerlichen Postzustellbezirk 61, am U-Bahnhof Südstern; dort, wo früher das Leibregiment Wilhelm Zwo stationiert war. Neues Kreuzberg heißt „everything goes“, heißt Individualität, Ästhetik, Kreativität; heißt Stöckelschuhe statt Gesundheitslatschen; heißt kühle schwarzweiße Weitläufigkeit statt Häkelgardinen und Trödelgemütlichkeit.

Molotow heißt die Boutique,

nicht der Cocktail

Neues Kreuzberg heißt nicht Alkis, Ausländer, Arme, Anarchos, Autonome, heißt nicht brennende Barrikaden und SO 36, heißt Innovation statt Destruktion. Das neue Kreuzberg steht für die endgültige Versöhnung Woodstocks mit Bloomingdales.

Zu neu sozialbewegten Zeiten übte sich die neue Kreuzbergerin in freiwilliger Ungepflegtheit und erstand die zur Bekleidung notwendigen Utensilien im Secondhandladen. Heute handelt sie nach einer Devise, mit der einer ihrer Modemacher wirbt: „Ich kleide mich königlich, damit ich Dir den Hof machen kann.“ Als Berufsfrau mit gut gefülltem Konto verkehrt sie bei Off-Designern, deren Läden so klangvolle Namen wie „Molotow“, „Fantazzi“, „Senso“ oder „Tangram“ tragen. En vogue ist alles, was teuer, chic und individuell ist, und es herrscht das Diktat der Stillosigkeit.

Die gängige Farbe ist Schwarz, die Formen sind puritanisch -militärisch, bringen aber auf raffinierte Weise die Weiblichkeit der Trägerin zur Geltung. Für gut geschneiderte Einzelteile gibt frau gerne, ohne mit der Wimper zu zucken, bis zu 1.000 Mark aus. Die Beinkleider sind weit a la Marlene Dietrich, dazu werden kurze Jacken im Stile Mao Zedongs kombiniert. Natürlich sind Hut und italienische Modellschuhe obligatorische Accessoires. Soll es etwas Ausgefallenes sein, entscheidet sich die Käuferin für ein rückendekolletiertes kniekurzes Kleid aus rotem Plastik.

Geht die neue Kreuzbergerin aus, wird sie vor gewisse Probleme gestellt: jede Lokalität erfordert ihren eigenen Stil. Für die weiße Marmorkneipe empfiehlt sich die Rolle der schwarz gekleideten, bleich geschminkten neuen Existenzialistin, die, ein Simone-de-Beauvoir-Halsband tragend, gelangweilt die gelben Gitanes raucht. Keine Frage, daß für den Besuch bei den Punks die Haare rot lackiert und zu Strähnchen toupiert werden müssen. Beim Griechen dagegen geht es volkstümlich zu: hier tun es die Levis 501.

Er hat weniger Wahlmöglichkeiten. Schwarze Bundfaltenhosen, schwarzes Hemd und pomadierte Haare sind obligatorische Grundausstattung. Ist der Herr der Schöpfung modemutiger, wählt er Vampirmantel und grüne Ballonmütze.

Muß Narzißmus Sünde sein?

Daß ihre Selbstinszenierung nicht zu leugnende narzißtische Züge in sich birgt, geben die modernen Sozialisationstypen freimütig zu. Mit dem ihnen eigenen Selbstbewußtsein kontern sie: „Muß Narzißmus denn Sünde sein?“ Auch in einem anderen Kritikpunkt stimmen sie zu: daß die Betonung von Ästhetik und Individualität eine Gegenbewegung zur alternativen Häßlichkeitskultur ist. Aber Individualität und Ästhetik sind noch mehr: Gestaltungsprinzipien des sich anbahnenden neuen, urbanen Lebensstils der modernen Mittelschichten. Diese postbourgeoise und postindustrielle Lebensform zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus: Mann und Frau sind berufstätig, leben aber meist allein. Die Ehe als Form des Miteinanders wird als anachronistisch empfunden, man richtet sich auf zeitlich begrenzte Beziehungen ein. Die gängige Form der Ansprache ist das vertrauliche „Du“. „Egal ob Sevilla, Bologna, München, Londoner Docklands oder Washington Square in New York, überall findet man diese neuen Lebensstile“, weiß Martin aufgrund seiner beruflichen Erfahrung zu berichten.

Maßgeschneidertes

setzt Maßstäbe

Martin wohnt im postmodernen Baller-Bau am Fränkelufer, der schon zwei Jahre nach seiner Erbauung zu architektonischer Berühmtheit gelangt ist. Seine Wohnung ist karg und nur mit dem Feinsten möbliert. Auch beim Wohnen gilt: Gegensätzliches zieht sich an. „Forma“ ist einer von den 300 Berliner Möbeldesignern, die Maßgetischlertes anbieten. „Der Trend geht eindeutig zum Individuellen. Nachgefragt wird ein Gebrauchsgegenstand, der gleichzeitig Kunstgegenstand und Antiquität von morgen ist“, meint Jörg Moritz von „Forma“. Die Preise für solch handgemachtes Design können sich sehen lassen. Für die Acryllampe in der Form des Empire State Buildings muß man 1.000 Mark ausgeben, und der schwingende Sackohalter mit Maske oben drauf kostet 400 Mark. Wie in der Mode sind auch bei den Möbeln klare, streng geometrische Formen vorherrschend.

Bloomingdale's ist in den Worten von Saskia Saasen-Koob eine „life-style economy“. In einer international vergleichenden Untersuchung macht die New Yorker Sozialforscherin „life-style economy“ in allen Metropolen entwickelter westlicher Industriegesellschaften aus. „Life -style economy“ basiert auf hohem Konsum- und Dienstleistungsniveau und findet sich in den renovierten und revitalisierten innerstädtischen Wohngebieten, die von den aufstiegsorientierten akademischen Mittelschichten bevorzugt werden. „Life-style economy“ ist die Abkehr von der industriellen, standardisierten Massenproduktion und der konsumgesellschaftlichen Normierung. „Life-style economy“ bedeutet individuelle, handwerkliche Produktion und Lebensqualität und ist die Konsumform der sich abzeichnenden Informations- und Kommunikationsgesellschaft. So weit Bloomingdale's. Nun zu Woodstock.

Der Softie ist säkularisiert

Was sind sie nun, die neuen Kreuzberger? Yuppies, die mit Ellbogen geradezu nach oben wollen? Gar Schicki-Mickis? Keine Angst, sie halten's mit Schillers „Marquis von Posa“: „Sagen Sie ihm, daß er für die Träume seiner Jugend soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird.“ Der Jugendtraum der neuen Kreuzberger war die Lebensphilosophie von Woodstock, sprich: Gegenkultur, es anders machen wollen, Selbstverwirklichung, Gleichheit der Geschlechter. Ist er ausgeträumt? Nein, nur ein bißchen zeitgemäßer geworden.

Natürlich ist man noch für die Gleichheit der Geschlechter, aber weg von der Geschlechtslosigkeit der Latzhosenkultur. Der Softie ist säkularisiert, zeigt Bizeps, wagt sich in schicke Anzüge und liebt es, wenn sie ihn verführerisch wie Carmen anblinzelt. Freilich schiebt er ohne Murren den Kinderwagen durch den Park. Natürlich stehen Umweltschutz und Ökologie noch hoch im Kurs. Aber mit der Naturfrömmigkeit und der Verzichtsideologie der Müslis hat man nichts mehr gemein. Warum, bitte schön, soll's nicht erlaubt sein, mit einem Katalysator-Mercedes mit 180 Stundenkilometern über die Autobahn zu rasen? Einkaufen geht der neue Kreuzberger immer noch beim alternativen Fleischer, der herbe Weißwein kommt natürlich vom ökologischen Weinbauern, die Pasta wird selbstverständlich ganz frisch hergestellt, und die Kosmetik ist naturrein.

Auch die Idee „vom anderen Leben und dem anderen Arbeiten“ ist ganz gewaltig modernisiert worden. Man arbeitet auch heute nicht mehr um der Arbeit willen, sondern nach wie vor zum Zwecke der Selbstverwirklichung. Am liebsten arbeitet man/frau nach flexiblem Zeitplan und am allerliebsten als Selbständige/r oder im Kollektiv. Aber Selbstausbeutung, Unprofessionalität und endlose Diskussionen finden nicht mehr statt; der Einheitslohn ist abgeschafft, das monatliche Salär ist an Leistung orientiert, und die Designerläden, Computerkollektive und Speiselokalitäten bedienen sich professioneller Management-Methoden.

Noch einmal zurück zur „Hasenburg“. Eines ist aus alten Zeiten übrig geblieben - der Spruch, der früher über der Theke hing: „Die größten Kritiker der Elche werden später selber welche.“ Der steht jetzt in den weißgekachelten Lavatories.