: Wiedervereinigung? Ja, bitte-betr.: "Wiedervereinigung? Nein, danke", taz vom 15.6.89
betr.: „Wiedervereinigung? Nein, danke“, taz vom 15.6.89
In dem Kommentar von Jürgen Gottschlich wird behauptet, „disparate Interessen lassen sich nicht - selbst wenn eine Bundesregierung dies wollte - zu einer Ostpolitik mit dem Ziel eines wiedervereinigten Staates bündeln.“
Abgesehen davon, daß es die Kunst einer rationalen und humanen Politik sein muß, gerade die unterschiedlichsten Interessen zumindest langfristig zusammenzuführen, fehlt in der ganzen Stellungnahme der Beweis, warum das Ziel - die Wieder- und Neuvereinigung Deutschlands eigentlich nicht erstrebenswert und erreichbar sei. Ich nenne nur zwei Gründe von vielen, die für dieses Ziel sprechen:
1. Das stalinistische Herrschaftssystem in der DDR ist nicht reformierbar. Dutzende von Ereignissen allein seit dem Honeckerbesuch 1987 und klare Äußerungen der SED-Führung machen dies deutlich. Wer Angst hat um seine Macht und politische Existenz, handelt mit hoher Wahrscheinlichkeit brutal und unberechenbar: Peking - Platz des himmlischen Friedens. Berlin - Marx-Engels-Platz?
2. Die neuen gewaltigen Veränderungen im Osten, das neue Denken Gorbatschows auch in der Außenpolitik, lassen eine Situation heranreifen, in der die deutsche Frage neu durchdacht, neu analysiert und besonders mit der Sowjetunion offen und frei diskutiert werden wird.
Die SED gehört ebenfalls zu den wichtigsten Adressaten dieser Überlegungen, trägt sie doch ein hohes Maß an Verantwortung dafür, ob und wie sich die Dinge in Deutschland wieder zum Besseren wenden. Die Auffassung der jetzigen Führung in Ostberlin, das neue Denken auf Dauer ignorieren zu können, führt in eine Sackgase, wenn nicht in Schlimmeres. Das neue außenpolitische Denken in Moskau, besonders der Rang, der dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen wieder eingeräumt wird, bietet eine große Chance. Die eigene Vergangenheit in der nationalen Frage, der so oft beschworene Vorrang der Nation vor der „gesellschaftlichen Frage“ weisen den Weg der Umkehr. Die SED selbst ließ 1962 ihre Proklamation „Die geschichtlichen Aufgaben der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschland“ mit den Worten schließen: „Ganz Deutschland ein reiches und blühendes Land der friedlichen Arbeit! Stolz und Freude für seine Bürger und geachtet unter den Völkern! Danach zu streben, dafür zu arbeiten und zu kämpfen - das ist die Aufgabe der DDR, ihrer Bürger und aller friedliebenden Deutschen!“
Dem kann ich nur noch hinzufügen: Wiedervereinigung? Ja, bitte.
Gert Schneider, Berlin 47
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