Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe

■ Peter Stein inszeniert Tschechows „Kirschgarten“ in der Westberliner Schaubühne

Mathias Greffrath

Am Ende, als alles entschieden ist, die Kirschbäume verkauft, die Koffer gepackt sind, die trauendern Bauern im Oktobernebel stehen; am Ende, als der weitere Verlauf des Geschehens klar ist - die Gutsherrin Ljubow Andrejewna wird in Paris bald ohne Geld und ohne Liebhaber mit überdrehter Melancholie eine teilfertige Mietswohnung im fünften Stock bewohnen, der Kapitalist Lopachin wird den Garten in immer kleinere Parzellen verschneiden und an Touristen verpachten, der Student Trofimow wird an Tuberkulose sterben oder zum enttäuschten Bolschewiken werden, Anja, die Schülerin, wird, wie schon Olga und Irina in den Drei Schwestern, Lehrerin werden, ohne Mann, und schließlich wird das westliche Kapital die Gegend mit Bohrtürmen überziehen -; kurz vor dem Schluß also, als alles dies klar ist, setzt sich die Gutsherrin Ljubow Andrejewna auf die Fensterbank. „Mir ist“, sagt sie, „als hätte ich früher nie recht wahrgenommen, was für Wände und Decken dieses Haus hat, und jetzt betrachte ich sie mit einer solchen Gier, mit einer so zärtlichen Liebe...“ Jutta Lampe krümmt sich, klammert sich an jede Minute, jede Sekunde dieses Abschieds, jeder Schritt zur Tür schmerzt körperlich. Schmerzt auch im Parkett.

In diesen Schmerz hinein: der blöde Schluckauf des Buchhalters Jepidochow; das häßliche Schnarren der Taschenuhr, die heftige Geste, mit der Jascha, der Fiesling, der Lakai, der sich schon auf die neuesten Zittertänze von Paris freut, dem Neureichen Lopachin bedeutet, die Uhr wegzustecken: „Diese Unbildung.“ Jascha, der damit zeigt, daß auch er eine Seele hat. Dies alles fast gleichzeitig. Wieder möchte man Peter Steins Inszenierung anhalten, wieder wird man gierig nach langen stillen Pausen, in denen man die Protagonisten dieses Chores von Menschen, Gegenständen und Geräuschen, der da auf der Bühne agiert, einzeln betrachten möchte.

Dieser Augenblick im ersten Akt zum Beispiel, als in die exaltierte Wehmut von Ljubow Andrejewanas Ankunft, in all die hastigen Erwägungen über die Zukunft des Kirschgartens hinein der greise Diener Firs tritt und, wie im Märchen, von den Zeiten erzählt, als man noch die gedörrten Kirschen nach Moskau gebracht hat. „Damals kannte man noch das Rezept“, sagt er. Steht steif und gebeugt mitten im Raum, Mütterchen Rußland und verlaßner Gottvater. Es wird still. Ganz still, nur in der Ferne schwingt ein nie gehörtes Instrument. „Und wo ist dieses Rezept jetzt?“ „Niemand kennt es mehr“, sagt der Alte. Und in unsere geschichtsphilosophische Traurigkeit hinein donnert das Urvieh Simeonow-Pistschik, der bäuerliche Adelige, der noch von den Pferden abstammt, wacht auf aus seinem feuchtwarmen Dauerrausch und knallt die Frage: „Was war in Paris? Wie war es? Haben sie Frösche gegessen?“

Ein Wechselbad das Ganze, zwischen den großen Gefühlen und den kleinen Gelüsten, dem großen Geschehen und den kleinen Menschen. „Du fragst: Was ist das Leben?“ schreibt Tschechow seiner Frau, drei Monate nach der Premiere des Kirschgartens und drei vor seinem Tod. „Das ist, als wollte man fragen: Was ist eine Mohrrübe? Eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe, mehr ist darüber nicht zu sagen...“

Man muß die Menschen nur ansehen, sagt Tschechow. Mit Liebe ansehen: weil sie so kindlich sind, wie Gajew, der Bruder der Andrejewna, der das halbe Vermögen in Form von Bonbons verlutscht hat, und der doch, als er schwört, das Gut werde nicht verkauft - „bei allem, was ich bin“ - noch so kindlich tief und so folgenlos über sich erschrecken kann. Und mit dem bösen Blick ansehen: weil dieser Gajew so unerträglich platt und faul und verschwatzt ist - wenn er seine Rede an den Bücherschrank und die Bildung hält, so echt wie nur eine Politikerrede und so sichtbar dementiert durch das Gerümpel hinter den Scheiben eben dieses Schrankes.

Liebe und böser Blick - das gilt auch für Tschechows Blick auf den Kulaken, den Kleinkapitalisten Lopachin, den Modernisierer, der das Gut, auf dem sein Vater noch Sklave war, doch nur erwirbt, weil es sonst ein anderer täte, der die Bäume fällen läßt und doch tödlich über sich erschrickt und aus Verzweiflung tanzt, sich selbst umarmt, weil die anderen in Panik vor ihm zurückweichen; ein Aufsteiger, im Gutshaus so fehlpaziert, daß er wie in einem Film von Laurel und Hardy im ersten besoffenen Triumph fast schon alles demoliert.

Tschechow und sein erster Regisseur Stanislawski konnten sich nicht einigen, ob der Kirschgarten eine Komödie oder eine Tragödie ist, diese Geschichte vom Einbruch der Modernität in Rußland. Nun, eine Mohrrübe ist eine Mohrrübe, und der Kirschgarten ist eines jener großen Kunstwerke, die immer mehr Tiefenschärfe gewinnen, so, als kämen sie aus einem langen, nie endenden Entwicklungsbad in der Dunkelkammer der historischen Zeit (das Bild ist von Walter Benjamin). Das Fortschrittspathos, mit dem Trofimov, der Student, dem Kind Anja den Kopf verdreht - hat uns das schon immer so traurig gemacht? Kamen uns die beiden schon immer so frisch und so dumm vor? Wie soll jemand wie dieser Intellektuelle die Welt zum Besseren wenden, der so stocksteif und kalt sich verweigert, als die Gutsbesitzerin Trost von ihm braucht, oder auch nur eine Umarmung und eine kleine Absolution. Und Ljubow Andrejewna, diese Vertreterin einer untergehenden Schicht, die gelangweilt auf dem Heuhaufen liegt und mit der Eleganz spielt, wenn auf dem Picknick die großen Gedanken deklamiert werden, ist ganz plötzlich überhaupt nicht dekadent, sondern ganz gegenwärtig: Als der Sozialist und der Kapitalist sich über die riesenhaften Möglichkeiten des unterentwickelten Rußlands streiten, wirft sie knapp ein: „Was wollen Sie mit Riesen... Die sind nur im Märchen gut. Hier würden sie einem nur Angst machen.“ Beides stimmt: die Dekadenz und der klare Blick der untergehenden Schicht auf die Tüchtigkeit und die Kälte derer, die das Land modernisieren werden.

Ist das alles erst heute zu sehen: daß dem Revolutionär, der „über der Liebe“ steht, und dem Kaufmann, der keine Zeit hat, die Welt gehören wird, aber keine Zukunft mehr? „Es wird keine Kinder mehr geben“, dieser schlimme kurze Satz steht im Programmheft; und es gibt kein neues Paar in diesem Stück. Keiner ist schuld, und die Welt geht doch zugrunde. Die großen Anforderungen und die kleinen Bedürfnisse, sie sind untrennbar vermischt. Und diese Geschichte, die Geschichte steht da auf der Bühne.

Da sitzen sie auf dem Heuhaufen und den Gräbern der schlechten Vergangenheit, die Kinder der Aufklärung, die halbgebildeten Dienstboten und die ermatteten Herren, haben die Rezepte vergessen und wissen nicht, wohin sie wollen. Möchten ein wenig lieben und sich zu Hause wissen. Da sitzen sie und beobachten den Sonnenuntergang, auf dem Hügel unter diesem wunderbaren Bühnenhimmel, tummeln sich noch im Freien, die liebenswerten Kinder des Feudalismus, die Onkelchen und Tantchen und Herzchen und Kindchen, mit den Schrullen und den Beschränkungen und dem zärtlichen Band zur unverstandenen Natur. Und dann reißt im Himmel eine Saite dieses nie gehörten Instruments, das erst beim Zerspringen hörbar wird. „Vor dem Unglück war es genau so“, sagt da der Diener Firs. Vor welchem Unglück? „Vor der Befreiung.“

Der falsche Zusammenhang unter den Menschen, der von Fürsorge und Gutdünken, Gottesfurcht und Peitsche, ist gerissen. Die Menschen sind freigesetzt. Aber auf die falsche Zugehörigkeit, die falsche Achtung, den falschen Glauben sind keine neuen gefolgt, sondern nur der Kommissar, der Kaufmann und der Weltmarkt. Als die Saite im Bühnenhimmel reißt, erscheint die Fata Morgana der Industriestadt. Es wird keine Kinder mehr geben.

Tschechow hat hingesehen. Nun sind wir 80 Jahre weiter, und diese 80 Jahre beschweren die Gestalten auf der Bühne. Peter Stein hat den Kirschgarten aus der Dunkelkammer geholt, hat, wie in der Orestie und im Peer Gynt, die Tragödie der Kultur, den Geist der Epoche und unsere kleinen Gebrechen inszeniert, den Schrecken über die Welt und die Einsicht in die Ohnmacht des Einzelnen. „Was sind das schon für Sünden?“ sagt Lopachin, als Ljubow Andrejewna sich anklagt.

In den himmlischen Längen dieses Abends steckt alles: gewaltige Umwälzungen und ihre Zwangsläufigkeit ebenso wie die Auflösung der Menschen: Jutta Lampes Gutsherrin, zwischen nervöser Sentimentalität, flüchtiger Wärme fürs Gesinde, romantischer Liebe zum fernen Geliebten, nüchterner Erfahrenheit, Trauer und Hysterie; Peter Simonischeks kindsköpfiger Bonbonlutscher, ununterscheidbar Fassade und Verzweiflung, Tor und tröstender Bruder; Udo Samals unsinnlicher, krank idealistischer Student und Michael Königs nervöser Kapitalist, der so viel fuchteln muß, mit den Händen, dem Geld und den Menschen, weil er sonst in sich zusammenfiele, weil nichts ihn hält außer altem Haß und neuen Abstraktionen - gebrochen sind sie alle. Nur Siemonow -Pistschik nicht, der bäuerliche Adelige, und Anja, aus der Jugendgruppe kommender Parteien.

Nein, keine Komödie, worauf Tschechow bestanden hatte, sondern unsere große Tragödie. Aber wie sie so sind, die Menschen: Eine Sekunde langt merkt Lopachin, was er anrichtet, wie lieblos er ist, bevor er wieder ins Kontor fährt. Eine Sekunde erschrickt Gajew über sich, bevor er sich wieder um sein Gehirn schwadroniert. Eine Sekunde lachen wir, inmitten der sterbenden Bäume, wenn ein Trottel einen schweren Koffer auf die Hutschachtel der Herrschaft stellt.

In den - das Wort sei einmal gestattet - dankbaren Applaus, den die Berliner Premierengäste ihrem Stadttheater gaben, bat Peter Stein mit der ihm eigenen autoritativen Bescheidenheit um Dank auch für die Unsichtbaren hinter der Bühne: für die Arbeiter, die diesen Traum vom zerbröckelnden Rußland, mit Heu und krummen Kirchlein, mit zerschlissenen Ballsälen, mit Bäumen und Billardtischen und Nebel im Garten bauten, mit all diesen Geräuschen und Gegenständen und Gerüchen; die das Licht machten, für diese lange Sekunde, in der wir uns zusehen konnten bei der Zerstörung des Kirschgartens, für unseren kurzen gierigen Blick auf die Wände und die Decken der untergehenden Welt. Für diesen heftigen Schmerz.

Soviel nach einer Nacht; wer alles sehen will, muß dreimal hingehen.