Offenbarungseid in Genf

■ Die START-Verhandlungen sind der Test für die Ost-West-Beziehungen

Seit Anfang dieser Woche ist die Phase wohlfeiler Erklärungen zwischen den beiden Supermächten abgeschlossen, und es geht wieder zur Sache. Es ist eine Sache, außenpolitische Grundsatzreden zu halten oder, wie Gorbatschow, im großen Wurf die Abschaffung aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000 anzubieten - eine ganz andere ist es immer noch, in konkreten Verhandlungen tatsächlich substantielle Ergebnisse zu erzielen. Mit der Wiederaufnahme der START -Verhandlungen unter der neuen US-Administration wird sich nun zeigen, ob das „Ende des kalten Krieges“, die neue Phase der Zusammenarbeit und die Versprechungen von Sicherheit, die nicht auf Kosten des jeweils anderen gehen darf, einen realen Niederschlag finden. Daß es mit dem „neuen Denken“ in Washington noch erheblich klemmt, hat Bush in den letzten Monaten bereits mehrfach durchblicken lassen. Hintergrund seiner Weisungen für Genf ist jetzt, wie Chefunterhändler Burt einräumt, die Überzeugung, „daß Atomwaffen auf lange Zeit unverzichtbarer Bestandteil einer erfolgreichen Abschreckung sein müssen“. Große Durchbrüche, wie Gorbatschow und Reagan sie bei ihrem Treffen in Reykjavik noch erörtert hatten, sind für die USA damit endgültig vom Tisch.

Die Debatten um atomare Kurzstreckenraketen und konventionelle Abrüstung haben in Europa den Blick dafür verstellt, daß sie für die Supermächte im Vergleich zu den strategischen Interkontinentalraketen peanuts sind. Echte Konzessionen werden, wenn überhaupt, dann jetzt in Genf gemacht. Die bisherigen Vorschläge sind allerdings kein Indiz für ein breiterwerdendes Vertrauensverhältnis, sondern die Fortsetzung der Erbsenzählerei wie bei den Rüstungskontrollverhandlungen der letzten 20 Jahre. Der Offenbarungseid in Genf wird eine weltpolitische Ernüchterung nach sich ziehen.

Jürgen Gottschlich