Kassen sollen in Gesundheit investieren

600 Gesundheitsexperten aus aller Welt diskutierten in Hamburg über den „historischen Wandel“ der sozialen Krankenversicherung Eine Forderung: Bis 1995 sollen die Krankenkassen hundertmal soviel Geld für Gesundheit ausgeben / AOK skeptisch  ■  Aus Hamburg Gabi Haas

Man stelle sich vor: Krankenkassen fordern autofreie Städte, unterstützen ihre Mitglieder bei Prozessen gegen Flughäfen oder Atomanlagen oder zetteln eine Kampagne gegen Medikamentenmißbrauch an. Seit die Kosten im Gesundheitswesen explodieren, seit unerschöpfliche Finanzströme in Arzneimittel und medizinische Technologien strömen, während das dramatische Ansteigen chronisch -degenerativer Krankheiten die Ärzte zur Hilflosigkeit verurteilt, seitdem ist auch die traditionelle Rolle der sozialen Krankenversicherung obsolet geworden. Über den „historischen Wandel“ der Kassen weg von der bloßen Verwaltung von Krankheit hin zu einer „Lobby für die Gesundheit“ diskutierten in der letzten Woche in Hamburg rund 600 Gesundheitsexperten aus 23 Ländern auf einem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK) veranstalteten Kongreß.

Das öffentliche Verständnis des Begriffs Gesundheit, so umschrieb es die WHO-Beauftragte Ilona Knickbusch, umfaßt die „Spanne von Cholesterinspiegel bis Tschernobyl“. Dabei würden von den Politikern meist zwei völlig verschiedene Kostenfaktoren vermengt: „Die Ausgaben für Krankheit und die Investitionen für Gesundheit“. Die Zahlen sprechen für sich: Weit mehr als 90 Prozent der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit gehen in die medizinische Akut-Versorgung, für Präventionsmaßnahmen bleibt nur ein kümmerlicher Rest. Gleichzeitig hat sich das Spektrum der Krankheiten während der letzten hundert Jahre grundlegend gewandelt: Früher waren akute Infektionskrankheiten die wichtigsten Todesursachen, heute sterben die Leute an Krebs, Schlaganfall oder Herzinfarkt, nachdem sie sich vielleicht schon jahrzehntelang mit Rheuma oder Diabetes herumgeschlagen haben. Die Ursachen solcher vorzeitigen Erkrankungen reichen vom Rauchen, Bewegungsmangel und Streß über Lärm, ungesunde Nahrungsmittel oder soziale Isolation bis zu Giften in Boden, Wasser und Luft: Bereiche also, die vom klassischen Gesundheitssystem noch unbeeinflußt bleiben.

Bisher erschöpft sich gesundheitliche Prävention hauptsächlich in großangelegten Früherkennungsprogrammen, sogenannten „Gesunduntersuchungen“, die die Unterschichten oft nicht erreichen und deren Nutzen nur in bestimmten Fällen wie etwa der Säuglings- und Kindervorsorge, allenfalls noch bei einzelnen Krebsformen, nicht aber bei den großen Volkskrankheiten nachzuweisen sind. Weil also die Schere zwischen diagnostischen Möglichkeiten und therapeutischen Fähigkeiten immer größer wird, verlangen kritische GesundheitspolitikerInnen heute auch von den Krankenkassen eine Bekämpfung der Krankheitsursache, sowohl was die Verhaltensweise der einzelnen („Verhaltensprävention“) als auch die Umweltbedingungen („Verhältnisprävention“) betrifft. Ilona Kickbusch forderte in Hamburg von den Krankenkassen, ihre Budgets für Gesundheit bis zum Jahre 1995 von durchschnittlich 0,1 Prozent auf zehn Prozent hinaufzuschrauben.

Doch das alleine reicht nicht aus: In Japan etwa sind die Kassen gesetzlich dazu verpflichtet, fünf Prozent ihres Etats für Gesundheitsförderung auszugeben, die bisher ziellos in aufwendigen Check-up-Programmen verpulvert werden.

Daß eine Investition in die „soziale Ressource Gesundheit“ gesamtgesellschaftlich auf der Haben-Seite zu Buche schlägt, versuchte Ilona Kickbusch mit Zahlen aus den USA zu belegen: So verlor das Land 1986 mehr als zwölf Millionen „potentielle produktive Lebensjahre“ durch frühzeitigen Tod der Arbeitnehmer. Doch der AOK-Bundesvorsitzende Wilhelm Heitzer warnte vor „kurzsichtigen Kosten-Nutzen-Erwägungen“. Eine „Kostendämpfung im engeren Sinne“ sei durch Prävention für die Krankenkassen nicht zu erreichen. Heitzer: „Möglicherweise wird ein Mensch, der eine erfolgreiche Präventionskarriere durchlebt und deshalb ein hohes Alter erreicht hat, insgesamt mehr Gesundheits- und Krankheitskosten verursacht haben als jemand, der nach einem kurzen und ungesunden Leben eines raschen Todes gestorben ist.“ Als Pluspunkte wertete der AOK-Chef die größere Lebensfreude, Lebensdauer und also auch Produktivität der Gesellschaftsmitglieder.

Die Frage, die Angehörige von Krankenkassen, Ärztekammern, Forschungsprojekten und Gesundheitsinitiativen auf dem Hamburger Kongreß bewegte: Wie können die Krankenversicherungen sich wirksam für gesündere Lebensbedingungen einsetzen, während sie gleichzeitig im erbitterten Überlebenskampf durch immer differenziertere Tarife und Leistungskataloge um bestimmte Versichertengruppen konkurrieren? Zwar werden die Kassen im sogenannten Gesundheitsrefomgesetz dazu angehalten, „den Ursachen von Gesundheitsgefährdungen und Gesundheitsschäden nachzugehen und auf ihre Beseitigung hinzuwirken“ (§20), doch geht deren faktischer Spielraum nicht über die unverbindliche Beratung anderer Institutionen hinaus. So wertete Rolf Rosenbrock vom Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung diese Gesetzespassage auch als einen klassischen Fall „symbolischer Politik“, bei der nicht mehr als „werbeträchtige Public-Relation-Maßnahmen“ herauskommen könnten. Dabei kann gerade die Gestaltung von gesunden Lebens-, Arbeits- und Umweltbedingungen nach Aussagen des Hamburger Sozialmediziners Alf Trojan nicht mitgliederbezogen und klassenspezifisch, sondern nur kooperativ organisiert werden. Er schlug eine Förderung von Selbsthilfegruppen und Bürgerinitiativen, die Unterstützung von Umwelt- oder Kunstfehlerprozessen sowie die Stärkung kooperationsfördernder Einrichtungen vor. Voraussetzung sei ein neues Verhältnis der Kassen zu ihren Mitgliedern, die auf lokaler Ebene angesprochen und zur Mitbestimmung aktiviert werden müßten. Daß die Krankenkassen bisher aus ihren Startlöchern noch nicht herausgekommen sind, beweist ein Fall am Rande der Tagung: Dort wurde nämlich die Schließung der Hamburger „Informationstelle Frauen-Alltag -Medikamente“ bekannt, die sich seit zwei Jahren um die große Zielgruppe der medikamentenabhängigen Frauen bemüht. Obwohl die Kosten der Informationsstelle in keinem Verhältnis zu den Kassenausgaben für Psychopharmaka stehen, haben die Gesundheitsbehörde und die Krankenversicherungen für dieses Projekt kein Geld.