„Sanktionen treffen eher die Bevölkerung“

Ernst Hagemann ist Chinareferent am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin / Weniger Kredite werden Arbeitslosigkeit erhöhen / Repression zerstört Kreativität  ■ I N T E R V I E W

taz: Die USA haben ihre Waffenlieferungen und Entwicklungskredite an China ausgesetzt und die Regierungskontakte auf hoher Ebene abgebrochen. Präsident Bush denkt aber derzeit an keine weiteren Sanktionen. Er will, so sagt er, die Wirtschaftsreformen in China nicht gefährden, die auch eine vorsichtige Liberalisierung auf politischem Gebiet nach sich gezogen hätten. Wie wird sich die BRD verhalten?

Ernst Hagemann: Bei der Debatte um Sanktionen müssen wir auch im Verhältnis zu anderen Staaten - davon ausgehen, daß sich wirtschaftliche Sanktionen nie sehr ausgezahlt, sondern viel eher die Bevölkerung getroffen haben. Washington hat ja auch die internationalen Organisationen zur Zurückhaltung bei der Bewilligung von Weltbankkrediten und des internationalen Währungsfonds aufgefordert. Das würde bedeuten, daß die Wirtschaftskrise noch verschärft wird.

Bewilligte Kredite sollen aber noch ausgezahlt werden?

Pacta sunt servanda! Es wird aber keine Entscheidungen über neue Verträge geben. Speziell bei der Weltbank stehen ja eine ganze Reihe von Krediten an, die eigentlich noch vor dem 1. Juli entschieden werden sollten und in einer Größenordnung von 700 bis 800 Millionen US-Dollar liegen. Die werden sicherlich nicht mehr in diesem Jahr verabschiedet. Und dann wird erst einmal nichts mehr gehen.

Seit es zwischen Weltbank und Volksrepublik Beziehungen gibt sind etwa 10,7 Milliarden US-Dollar bewilligt worden. Im laufenden Jahr standen etwa knapp über 2,2 Milliarden US -Dollar zur Entscheidung an, davon wird einiges nicht ausgezahlt werden. Die letzten Verträge, die im März abgeschlossen worden sind, betreffen zum Teil Verkehrsprojekte, zum anderen Teil landwirtschatliche Projekte.

Welche Auswirkungen der Sanktionen auf die chinesische Bevölkerung sind absehbar? Der US-Landwirtschaftsminister Clayton Yeutter hat betont, der amerikanische Getreidemarkt bleibe für China offen.

Die Getreideproduktion dort stagniert seit 1985. Die chinesischen Märkte haben etwas weniger an Reis exportiert und sind dazu übergegangen, Weizen und Mais in einer Größenordnung zwischen 8 und 15 Millionen Tonnen einzukaufen. Auch für dieses Jahr standen Verträge an und sind vor etwa zehn Tagen abgeschlossen worden, also nach den Ereignissen von Anfang Juni. Aber die Chinesen haben bei diesem Getreidekauf keine Subventionen der amerikanischen Regierung in Anspruch genommen, sondern ein ganz normales kommerzielles Geschäft gemacht. Dies wird bedeuten, daß sich die Handelsbilanz im laufenden Jahr noch weiter verschlechtert. In den ersten vier Monaten gab es ein Defizit von etwa 3,5 Milliarden US-Dollar.

Mit welchen politischen Konsequenzen ist zu rechnen? Die Proteste der Bevölkerung hatten sich ja nicht zuletzt an dem Beschluß des Nationalen Volkskongresses entzündet, den Gürtel wieder enger zu schnallen.

Bereits im August vergangenen Jahres hatte sich die Partei entschlossen, etwas schärfer gegen die Überhitzung der Wirtschaft vorzugehen, die Reformen um etwa zwei Jahre zu verschieben und energische Maßnahmen gegen die galoppierende Inflation zu ergreifen. Dies hat natürlich heftige Kontroversen ausgelöst und sich auf die Auseinandersetzung ausgewirkt. Die Regierung wird nach den abzusehenden Wachstumseinbußen versuchen, die Investitionen noch drastischer zurückzuschrauben und dabei auch in Provinzen sowie bei Lokalbehörden einzugreifen.

Die bisherigen Maßnahmen der Kreditverknappung haben nicht viel bewirkt. Die Investitionen sind weiter gewachsen, haben zur Nachfrageausweitung und damit zur Erhöhung der Preise beigetragen. Neben dieser Rezentralisierung wird man versuchen, die Inflation auf 20 Prozent stabil zu halten. Dies bedeutet bei sinkendem Wachstum eine Stagflation. Zum dritten besagen ja alle öffentlichen Bekundungen, daß die Regierung bei dem Reformkurs, bei der Öffnung bleiben will. Die massive Einschüchterung der Studentenführer wird natürlich bewirken, daß diejenigen, die Verantwortung in den Betrieben übernehmen und Kreativität zeigen sollten, sich jetzt zurückhalten.

Was wird die bundesdeutsche Wirtschaft jetzt verlieren?

Sicherlich werden heute Direktinvestitionen gekündigt. Ob es aber gelingt, das Kapital tatsächlich zurückzuholen, läßt sich nicht vorhersagen. Es wird vor allem die Firmen in Hongkong und Macau betreffen, die sich auf ein kurzfristiges Engagement in der Volksrepublik eingelassen hatten. Die entwicklungspolitischen Kredite der BRD hatten im letzten Jahr ein Gesamtvolumen von 410 Millionen Mark, zu etwa gleichen Teilen technische und Kapitalhilfe.

Auf die Hilfe beim U-Bahnbau in Schanghai wird man verzichten müssen, und das hat natürlich Auswirkungen auf die deutschen Zulieferfirmen.

Treffen könnten China natürlich auch die Verhandlungen über eine Wiederaufnahme in das Freihandelsabkommen GATT. China hat ja in den fünfziger Jahren zu den Gründungsmitgliedern gehört und hat die Mitgliedschaft dann aufgegeben. Im Memorandum an den GATT-Ausschuß haben sie jetzt erklärt, wie stark sich China auch im Bereich des Außenhandels gewandelt hat - weg von der starken Zentralisierung. Dahinter wird man nun ein großes Fragezeichen setzen müssen.

Welche Auswirkungen werden die jüngsten Ereignisse auf die binnenwirtschaftliche Entwicklung haben?

Der Herbst und der Winter werden wirtschaftlich sehr schwierig werden. Etwa 60 Millionen Chinesen in bestimmten Regionen mit schlechter Selbstversorgung leben am Rande des Existenzminimums. Das konnte man bisher mildern durch Regionen mit günstigeren Voraussetzungen. Jetzt wird die Volksrepublik auf den Markt gehen und Getreide zu hohen Preisen auf den internationalen Märkten kaufen müssen.

Muß man auch mit einer höheren Arbeitslosigkeit rechnen, die schon im letzten Jahr zu sozialen Konflikten geführt hat?

Die Arbeitslosigkeit wird sich sicherlich verschärfen. Dazu kommen noch die vagabundierenden Arbeitskräfte, die auf den großen Bauprojekten in den Städten bisher mehr oder weniger geduldet wurden und jetzt - durch die Investitionskürzungen

-nicht mehr beschäftigt werden können. Die Leute werden wahrscheinlich aufs Land zurückwandern und dort die Probleme auch noch verschärfen.

Interview: Simone Lenz