In der VR China hat der Terror Geschichte

■ Die Hinrichtung politischer Gegner gehört seit 40 Jahren zum Repertoire der Macht

Mindestens 27 Menschen sind in China in den letzten Tagen hingerichtet worden. Von den USA über Europa bis Japan wird nun über Sanktionen gegen das Reich der Mitte gesprochen. Weltweit protestieren AuslandschinesInnen, Regierungen und DemonstrantInnen. In der Tat nimmt die Repression in China dramatische Ausmaße an. Dramatisch, weil unter den Augen der Öffentlichkeit. Doch seit dem Sieg der Revolution 1949 sind Millionen der Repression zum Opfer gefallen.

Es wird nicht einmal der Versuch unternommen, etwas zu vertuschen. Dissidenten, Arbeiter, Studenten und Bauern, die dieser Tage im chinesischen Fernsehen als angebliche Konterrevolutionäre vorgeführt werden, weisen deutliche Zeichen von Folter auf. Ihre zerschundenen Gesichter zeugen von bestialischen Mißhandlungen bei Verhören und Festnahmen. Das Ziel, das die chinesische Führung verfolgt, ist eindeutig: Sie will Angst und Schrecken verbreiten. Wer sich gegen die Führung auflehnt, wer die Majestäten beleidigt, wird öffentlich gedemütig. Er soll das Gesicht verlieren, dann erst das Leben. Das ist die Nachricht, die auch in die letzten Landesteile vordringen soll.

Nicht erst seit dem Massaker auf den Tiananmen und den Todesurteilen von Schanghai und Peking zeigt die Kommunistische Partei Chinas, wozu sie fähig ist. Schon seit Jahren lesen sich die Berichte von amnesty international (ai) über die Volksrepublik China wie Auszüge aus einem Horrorfilm. Im sozialistischen Reich der Mitte waren Menschenrechtsverletzungen nie ein Thema. Todesstrafen wurden, wenn es die politischen Kampagnen der Herrschenden erforderten, im Eilverfahren ausgesprochen. Der Unterschied zu anderen Ländern der Region: Menschenrechte fanden nie eine Lobby im Westen. Während die Hetzjagd der Regimes in Indonesien, Südkorea und auf den Philippinen nach Dissidenten und Gewerkschaftlern in der Vergangenheit immer wieder eine breite Solidaritätsbewegung im Westen hervorbrachte, zeitigten Todesstrafen, Völkermord und Folter in China nur Ignoranz, betretenes Schweigen oder gar Solidarität mit der chinesischen Führung - selten aber mit den Opfern. In den letzten zehn Jahren hat zudem die Euphorie über die chinesische Wirtschaftsreform westliche Politker zum Schweigen gebracht. Angesichts des größten Marktes auf Erden, der sich da zu öffnen begann, waren Menschenrechte in China kein Thema. Bestenfalls die Grünen Petra Kelly und Exgeneral Gert Bastian weigerten sich, in den Lobgesang einzustimmen und brachten immer wieder penetrant die Tibetfrage aufs Tapet.

Ende der 70er Jahre antwortete Deng Xiaoping auf Jimmy Carters Forderung nach Menschenrechten und Reisefreifheit im Reich der Mitte mit dem lapidaren Satz: „Wenn Sie wollen, daß ich zehn Millionen Chinesen freilasse, damit sie in die USA ausreisen können, tue ich das gern.“ Unklarheit und das bare Entsetzen angesichts der „schieren Zahl“ der Verhafteten und Mißhandelten hätten in der Vergangenheit auch Menschenrechtsaktivisten gelähmt, schreibt Robert Cohen in seiner Brochüre China, die Menschenrechtsausnahme. Warum, fragt der Leiter der Menschenrechtsgruppe im britischen Parlament, regierte niemand darauf, daß noch 1983 nach westlichen Schätzungen etwa 10.000 Menschen während der Kampagne gegen „geistige Verschmutzung“ hingerichtet wurden. In dem landesweiten Kehraus gegen angebliche Kriminelle wurden etwa eine Million Menschen in Gefängnisse und Arbeitslager eingewiesen. Das Außenministerium der USA geht davon aus, daß in chinesischen Arbeitslagern in entlegenen Provinzen und Regionen wie Tibet, Qinghai und Xinjiang bis zu zehn Millionen Menschen schmachten. Viele der Demonstranten, die im April und Mai für Demokratie und Freiheit auf die Straße gingen, werden wohl dort enden. Nicht wenigen droht aber die Todesstrafe. Damit waren die Machthaber in Peking nie zimperlich.

Bereits 1956 meldete Mao Zedong dem Politbüro: „Zwei Millionen von drei Millionen Konterrevolutionären sind hingerichtet worden.“ Ein Jahr später initiierte der „Große Steuermann“ mit dem damaligen Ministerpräsidenten Deng Xiaoping die Kampagne gegen die „Rechtsabweichler“. 700.000 Intellektuelle wurden in die chinesischen Gulags verbannt. Die überlebenden kamen erst Ende der 70er Jahre frei. Viele waren damals öffentlich exekutiert worden. Nach Schätzungen des Chinakenners Jürgen Domes von der Universität Saarbrücken forderte die staatliche Repression in den 40 Jahren seit der Gründung der Volksrepublik China 18 Millionen Todesopfer. Sechs Millionen Menschen sollen allein in der Kulturrevolution (1966-1976) dem „Kampf zweier Linien“ in der Partei zum Opfer gefallen sein. Selbst der chinesische Spitzenpolitiker Deng Xiaoping, der sich vor drei Wochen als Schlächter vom Tiananmen-Platz offenbarte, gab einmal zu, daß die Repression in diesem dunkelsten Kapitel der Geschichte seines Landes 100 Millionen Menschen betroffen habe - also jeden zehnten.

Daß zum erstenmal seit den „zehn Jahren Wirren“, so die offizielle KP-Sprachregelung, in diesen Tagen in den Zeitungen wieder vom Klassenkampf die Rede ist, verheißt nichts Gutes. Nach offziellen Angaben sollen im ganzen Land etwa 1.700 „Aufrührer“ verhaftet worden sein. Die Dunkelziffer wird um ein Vielfaches höher liegen. Den meisten droht die Todesstrafe. Nach Paragraph 43 des chinesischen Strafgesetzbuchs kann sie zwar nur bei „Verbrechen schlimmsten Grades“ gefällt werden. Doch das waren in der Vergangenheit nicht nur Vergewaltigung und Zuhälterei, sondern auch Taschendiebstahl und das Klauen von Fahrrädern. Im landesweiten Feldzug der Rache und Vergeltung können verhaftete Studenten und Arbeiter wohl nur mit Gnade rechnen, wenn sie sich selbst den Behörden gestellt haben oder ihre Mitstreiter denunzieren.

Die Gerichtsverfahren in China sind ohnehin eine Farce. Den drei am letzten Freitag in der ostchinesischen Hafenstadt Schanghai zum Tode Verurteilten war eine Berufungsfrist von drei Tagen eingeräumt worden. Nach dem Gesetz könnte die Strafe dann um zwei Jahre aufgeschoben werden. Hätten die Angeklagten „Reue und Besserung“ gezeigt, wäre eine Umwandlung der Strafe in lebenslange Haft möglich gewesen. „Für Leute, die Fahrzeuge anzünden und die öffentliche Ordnung stören“, sagte jedoch der Staatsanwalt, der in Schanghai an den drei Terrorurteilen mitgewirkt hat, wird es kein Erbarmen geben.“

Die Todestrafe wird in der Volksrepublik China durch Genickschuß vollstreckt. Für die Kosten der Kugel müssen die Verwandten aufkommen. Was eine Todeskugel wert ist, liegt im Ermessen der lokalen Henker. In Tibet sollen den Hinterbliebenen dafür in diesem Frühjahr 600 Yuan (umgerechnet etwa 300 Mark) berechnet worden sein. Das ist mehr als ein Monatslohn. Amnesty international weist jedoch darauf hin, daß es nicht nur öffentliche Hinrichtungen gibt. Nach dem Massaker am 4.Juni seien viele Menschen von der Polizei und den Militärs auch standrechtlich erschossen worden. Allein 400 Studenten sollen schon vor einigen Tagen bei der Räumung der Peking-Universität kurzerhand niedergeschosen worden sein. Von den elf Mitgliedern der Motorradgruppe „Fliegende Tiger“, die den Demonstranten als Kurier dienten, fehlt nach ihrer Verhaftung bis heute jede Spur. Das gleiche gilt für den Rundfunksprecher Li Dan. Er hatte in der Blutnacht im Rundfunk gemeldet, auf dem Tiananmen seien mehrere tausend Menschen von der Armee hingemetzelt worden. Sie mögen ein Ende gefunden haben, wie der etwa 25jährige Radfahrer, den zuletzt ein westlicher Reporter am 9.Juni mit einer Protestfahne in der Hand auf Pekings Changan-Allee gesehen hat. „Er wurde verhaftet und in ein nahegelegenes Armeezelt abgeführt“, heißt es in einem ai-Bericht, „kurz danach war ein einzelner Schuß zu hören.“

Jürgen Kremb