Demokratie und Modernisierung

■ Am 18. November 1986 hielt der regimekritische Astrophysiker eine Rede an die Studenten der Tongji Universität von Schanghai, einem Zentrum der Studentenbewegung der letzten Monate. Sie wird zusammen mit anderen Beiträgen Fang Lizhis im August dieses Jahres im Siedler-Verlag erscheinen, herausgegeben vom Bochumer Sinologen Helmut Martin

Fang Lizhi

Im großen und ganzen kann man sagen, daß sich der Sozialismus auf einem Tiefpunkt befindet. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist keines der sozialistischen Länder erfolgreich gewesen. Ich denke, das ist eine unbestreitbare Tatsache. Über dreißig Jahre Sozialismus in China haben, zusammenfassend gesagt, keinen Erfolg gebracht. Sicher gibt es nun Leute, die einwenden, unser Land sei zu groß, zu arm, Chinas Bevölkerung zu zahlreich. Manch einer meint, es sei schon schwierig genug gewesen, das bisher Erreichte zu schaffen. Wir sind der Meinung, daß solche Einwände dem Problem nicht auf den Grund gehen.

In Theorie und Praxis kann man genug Argumente finden, um sie zu widerlegen. Manche sagen, die Bevölkerungszahl sei zu hoch, aber wir sollten wissen, daß wir in unserem Land durchaus nicht die höchste Bevölkerungsdichte der Welt haben. Ich habe das einmal untersucht: Wenn man von der Fläche bebaubaren Ackerlandes ausgeht, so leben in China pro Quadratkilometer 750 Menschen. Im Vergleich dazu leben in Japan doppelt so viele auf der gleichen Fläche, nämlich 1.500. Warum ist Japan erfolgreich, China dagegen nicht? Der Ausgangspunkt ist für beide Länder doch in etwa gleich gewesen, denn nach dem Krieg war das wirtschaftliche Niveau Japans dem unsrigen in vielfacher Hinsicht vergleichbar. Von der Bevölkerungszahl her kann man also unmöglich diesem Problem auf den Grund gehen. Natürlich gibt es Leute, die argumentieren könnten, China sei von seinen Grundlagen her einfach zu arm, aber auch diese Begründung halte ich nicht für ausreichend. Ost-Berlin und West-Berlin

Ich kann ein paar Beispiele anführen, die das Problem in den sozialistischen Ländern sehr genau erklären. Am besten kann man sich diesem Problem am Beispiel Ost- und West-Berlins nähern. Ich habe mir Ost-Berlin und West-Berlin angesehen, und das hat mir vieles deutlich gemacht. Zwischen Ost- und West-Berlin gibt es diese riesenhohe Mauer, die beide Seiten voneinander trennt. Wollen die Bewohner West-Berlins nach Ost-Berlin fahren, so kümmert sich niemand darum. Wer hinüber will, der kann das tun. Möchte man sich Ost-Berlin ansehen, so kauft man ein Reiseticket und fährt eben hinüber. In West-Berlin gibt es Waren im Überfluß; kommt man nach Ost-Berlin, so steht man schlagartig vor einer anderen Situation. Zwar sind die Gebäude auch da sehr imposant, doch auf dem Markt hält man vergeblich nach Waren Ausschau, und der Mann auf der Straße schaut ziemlich ernst drein. (Gelächter, Beifall)

Besonders deutlich wird das andere Klima an den Grenzübergängen zwischen beiden Ländern. In dem Moment, wo man Ost-Berlin betritt, ist schlagartig mit der lockeren Überprüfung der Westberliner Seite Schluß. Bei der Rückkehr wird nämlich der Besucher genau untersucht, Paß und Gepäck von jedem einzelnen werden überprüft, und zusätzlich inspiziert man den ganzen Wagen. Das Wichtigste ist dabei, Ostdeutsche von einer Flucht abzuschrecken. Wenn die sozialistische Gesellschaft in Ordnung ist, warum muß man dann fürchten, daß ihre Bürger die Flucht ergreifen? (Stürmischer Beifall) Das sagt einem die simpelste Logik. (Stürmischer, langanhaltender Beifall) Ich habe nicht vor, die DDR zu verunglimpfen. Ich will lediglich sagen, nur wenn man sein eigenes Scheitern eingesteht, kommt man weiter, nur wenn man zugibt, daß das System des Sozialismus gescheitert ist, versteht man die Lage. (Stürmischer Beifall)

Ich stelle fest, Mao Zedong ist gescheitert. (Stürmischer Beifall) Wir sind zu überheblich geworden

Nach der Befreiung haben wir uns stets über andere Zivilisationen gestellt, außer religiösem Eifer war da kein Raum mehr für irgendetwas anderes. (Stürmischer Beifall) Letzten Monat begingen wir den 50. Jahrestag des Langen Marsches. Tatsächlich haben eine ganze Reihe fortschrittlicher Kämpfer den Langen Marsch durchgestanden, die auf der Suche nach Wahrheit unzählige Mühsalen und Strapazen auf sich nahmen, während sie sich von Jiangxi in den Norden Shanxis durchschlugen. Diese Geisteshaltung sollte man würdigen. Ursprünglich war das eine sehr gute Sache, später aber fügten die Propagandastellen Kommentare hinzu wie „beispiellos in der Geschichte“, nur „Personen mit einzigartigen Fähigkeiten“ hätten solche Taten vollbringen können und dergleichen. Damit verkehrte sich die Wirkung der Propaganda geradezu in ihr Gegenteil.

Eigentlich haben wir in der chinesischen Geschichte schon viel früher einen Langen Marsch gehabt. Meiner Meinung nach kann man die buddhistische Pilgerreise Xuan Zangs nach Indien damit vergleichen, auch das war ein Langer Marsch. (Gelächter, Beifall) Es war wirklich das Gleiche. In beiden Fällen war man auf der Suche nach etwas Neuem. Außerdem wissen wir, daß Xuan Zangs Unternehmen aus historischer Sicht eine außerordentliche Bedeutung zukommt. Nachdem er in Indien angekommen war, studierte er den Buddhismus mit großem Erfolg, und so wurde er der Zweite Chef im Institut für buddhistische Studien damals. (Gelächter) Und das nicht, indem er sich auf unser heutiges Beförderungssystem der Patronage verließ, gestützt auf den Disput machte er seinen Weg nach oben. Xuan Zang debattierte mit Hunderten von Menschen und setzte sich am Ende erfolgreich durch.

Es gibt da einen bedeutenden Historiker, der ein Werk über die Geschichte der Menschheit verfaßt hat, welches einen Zeitraum von mehr als 2.000 Jahren umspannt. Darin hebt er zwei Chinesen hervor, beide haben buddhistische Forschungen betrieben, und einer von ihnen war Xuan Zang. Ihn hält er für jemanden, der einen Beitrag zur menschlichen Zivilisation geleistet hat. Daher ist die Bedeutung von Xuan Zangs Reise in den Westen auf der Suche nach Wahrheit gewiß nicht weniger wichtig als der Lange Marsch der Roten Armee. Der Lange Marsch der Roten Armee ist wirklich nicht beispiellos in der Geschichte. (Stürmischer Beifall) Einer derartigen Propaganda haftet geradezu Feudalismus an, indem sie erklärt, wir selbst verfügen über die orthodoxe Wahrheit, alles andere könne sich daran nicht messen. Nur wir haben die hervorragenden Leistungen vollbracht, die ganz beispiellos in der Geschichte sind. Schwedens Sozialismus

könnte Vorbild sein

Wir wollen eine allumfassende Öffnung, wollen alle anderen Kulturformen in uns aufnehmen, wollen unsere Gesellschaft umgestalten. Da können wir nicht wieder die Türen verschließen und weiter Nabelschau betreiben, dürfen nicht behaupten, bei uns sei alles in bester Ordnung. Die Weltzivilisation ist aus den Elementen verschiedenster Kulturen entstanden. Wenn ich die sozialistische Bewegung einmal kommentieren darf: Sie befindet sich heute auf einem Tiefpunkt, die Existenz dieses Tiefpunktes wird inzwischen nicht mehr geleugnet. Die sozialistischen Gesellschaften der Gegenwart haben sich in viele Richtungen aufgespalten. Jede Richtung versucht, den Sozialismus zu realisieren, viele kenntnisreiche Persönlichkeiten auf der ganzen Welt forschen und untersuchen auf diesem Gebiet. Manche räumen ein, der Sozialismus sei gescheitert, andere behaupten, er sei nicht vollständig gescheitert.

Im Juli dieses Jahres nahm ich in Schweden an einer Konferenz teil. Ein schwedischer Freund erklärte mir, erst was sie dort praktizierten, sei echter Sozialismus. Er fragte: Euer Sozialismus, beruht der nicht auch auf dem Begriff des gesellschaftlichen Eigentums, bemüht ihr euch nicht, die Spanne zwischen Arm und Reich möglichst gering zu halten? Bei uns gehören über die Hälfte der Betriebe der öffentlichen Hand, und die Spanne zwischen Arm und Reich ist sehr gering.

Wir waren beeindruckt, der hohe Lebensstandard der Schweden war für uns offenkundig. Das Bruttosozialprodukt in Schweden beträgt durchschnittlich 19.000 US-Dollar, da können wir in keiner Weise heranreichen. Weiterhin erklärte er, in eurer wie in unserer Gesellschaft gibt es Sozialleistungen, nur sind sie in der schwedischen Gesellschaft ungleich besser als in unserer. Während sie im ideologischen Bereich ebenfalls den Marxismus propagieren, haben sie aber doch eine vorbildliche Sozialleistungsgesellschaft.

In einer Ausstelllungshalle habe ich mir Wandbilder angesehen. Ein riesengroßes Wandbild zeigte, wie die schwedische sozialdemokratische Partei die Arbeiter zu Protestaktionen anspornte. (Gelächter) Ein zweites großes Wandbild gab die Regierungsübernahme nach einer parlamentarischen Redeschlacht wieder und das glückliche Leben des Volkes im Anschluß daran. Sie stellten außerdem fest, das Fernsehen sei ein Instrument der Erziehung, deshalb hätten sie ein Verbot für die Ausstrahlung von Werbung im Programm erlassen. (Beifall) Von der Ideologie bis hin zu ihrer realen gesellschaftlichen Entwicklung existieren in Schweden sehr viel mehr sozialistische Inhalte als bei uns in der Volksdemokratie. Wir haben unsere Bourgeoisie vernichtet, Schweden aber

beseitigte die Armut des Proletariats

Lenin hat die sozialdemokratische Partei als abtrünnige Gruppierung gebrandmarkt, und er hat auch die Zweite Internationale als abtrünnig verurteilt. Aber gleichgültig, ob die nun abtrünnig gewesen sind oder nicht, haben sie schließlich doch die ganz realen Probleme gelöst! Wenn wir nach unserer Reformparole wirklich die Praxis als Maßstab zur Überprüfung der Wahrheit heranziehen, dann ist Schwedens Erfolg und seine Entwicklung um vieles vernünftiger und fortschrittlicher als bei uns.

Die Schweden halten uns vor: Ihr betont den Klassenkampf, die Diktatur des Proletariats, und deshalb habt ihr die Bourgeoisie beseitigt; auch wir praktizieren Sozialismus, aber wir vertreten den Ausgleich zwischen den Klassen. Die Klassenfrage und die Widersprüche, die in der Gesellschaft existieren, lösen wir durch Ausgleich. Wir haben in den fünfziger Jahren auch einen Ausgleich zwischen den Klassen erreicht und eine Klasse beseitigt, aber die Klasse, die wir beseitigten, war nicht die Bourgeoisie, sondern das Proletariat. (Stürmischer Beifall) Was bedeuten diese Äußerungen? Ein großer Teil der schwedischen Bevölkerung ist zur mittelständischen Bourgeoisie geworden, somit hat man das Proletariat beseitigt. Ich denke, wir sollten uns einmal in aller Ruhe hinsetzen und das wirklich gewissenhaft und gründlich überprüfen.

Es gibt eine Anzahl veralteter Vorstellungen, die zu einem Hindernis geworden sind; aber wir leben schon lange in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen, alles erscheint uns so selbstverständlich, wir haben uns so doch die ganzen Jahre durchgeschlagen. Aber sobald ich ins Ausland gehe und mich ein wenig umsehe, spüre ich, daß die Vorstellungen der Vergangenheit völlig falsch und wir da einer Reihe von fehlerhaften Ansichten aufgesessen sind. Es gibt viele Ursachen für unsere Mißerfolge, es haben sich wirklich noch zu viele feudalistische Elemente bei uns in China erhalten.

Nur dem Volk die Fesseln lockern ist keine Demokratie

Die Themen, über die ich heute rede, sind Demokratie, Reformen und Modernisierung. Über die Notwendigkeit von Reformen und einer Modernisierung habe ich schon gesprochen. Jetzt möchte ich noch etwas zur Frage der Demokratie sagen. Erst neulich hieß es bei uns wieder, wir brauchten Demokratie, wir würden gern unsere Lebensverhältnisse ein wenig „auflockern“. Der Begriff der Demokratie aber ist ganz eindeutig und keinesfalls mit „Lockerung“ gleichzusetzen. Was bedeutet nun also Demokratie? Das Ausschlaggebende sind die Rechte der Menschen...

Unser jetziger Begriff von Demokratie ist diametral verschieden von den westlichen Vorstellungen. Ganz gleich, um welche Sache es sich handelt, alles wird von oben nach unten gemacht, das zeugt von keinem demokratischen Bewußtsein, das ist undemokratisches Bewußtsein. Die Demokratie beginnt

beim Individuum

In demokratischen Ländern beginnt die Demokratie beim Individuum, die Regierung muß sich vor dem einzelnen verantworten. Ökonomisch gesehen muß ich als einzelner Einkommensteuer zahlen, denn erst dann kann eine Regierung ihrer Arbeit nachkommen. Du hast meine Steuergelder genommen, dann sollst du auch etwas für mich schaffen: Schulen, Krankenhäuser, öffentliche Wohlfahrt und eine Stadtverwaltung. Gefühlsmäßig meint jeder, wenn die Regierung durch meine Steuergelder unterhalten wird, dann soll sie mir auch persönlich nutzen und mir verantwortlich sein. Dies gehört zur Vorstellung von einer demokratischen Gesellschaft. Aber bei uns steht das alles auf dem Kopf. Wenn die Regierung für uns nur einen Handschlag tut, dann urteilen wir schon, die Regierung sei wirklich gut. An sich sind das die Dinge, die die Regierung verpflichtet ist, für uns zu erledigen.

Bei der Ausbildung der Schüler sagt man in unseren Schulen oft: „Ihr müßt fleißig lernen und die Partei und den Staat achten, die euch Gelegenheit zum Lernen gegeben haben.“ (Gelächter) Die erste Hälfte des Satzes ist richtig, man sollte fleißig lernen. Die zweite Hälfte ist falsch, weil dir diese Gelegenheit nicht vom Staat gegeben wird, sondern jeder Mensch von klein auf das Recht darauf hat. In der Verfassung ist festgelegt, daß jeder Bürger das Recht auf Ausbildung hat. (Beifall) Wirtschaftlich gesehen seid ihr es doch auch, die Einkommensteuer zahlen (ihr Studenten zahlt zwar keine, aber eure Väter zahlen sie), da soll die Regierung Schulen einrichten, um eine Ausbildung zu ermöglichen.

Wir müssen verstehen, wie die wirtschaftlichen Abhängigkeiten sind, ein solches Verständnis ist die Grundlage des demokratischen Denkens. Die feudalistische Tradition ist bei uns in China ziemlich stark. Irgendwie funktioniert alles von oben nach unten. Ich finde, da ist alles auf den Kopf gestellt. Woran es uns beim Aufbau unserer geistigen Zivilisation am meisten mangelt, ist demokratischer Geist und ein demokratisches Bewußtsein. Bei der Reform des politischen Systems müssen sehr viele Dinge abgeändert werden, aber die Herausbildung eines demokratischen Bewußtseins ist das Ausschlaggebende.

Denunziationen und Verletzungen der Privatsphäre untergraben die Demokratie

In jüngster Zeit hat es in Europa viele Erscheinungsformen von Gewalt gegeben, Attentate, Entführungen und so weiter. Dies trug ins Leben der Europäer Elemente der Instabilität. Deshalb forderte die Öffentliche Meinung vehement die Beseitigung des Gewaltphänomens. Im Juli bin ich nach Frankreich geflogen. Dort ereigneten sich mehrfach Explosionen in Flugzeugen und auf Flughäfen. Deshalb schlugen in der letzten Zeit einige Leute vor, man solle ein Gesetz schaffen, das den Bürger verpflichtet, unverzüglich der Polizei Meldung zu machen, sobald bei ihm der Verdacht aufkommt, irgendein Ereignis oder eine Person könnten Gewalttätigkeit provozieren. So solle der Polizei ermöglicht werden, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Das ist auch eine Maßnahme, um die Interessen aller Bevölkerungsschichten zu garantieren. (Gelächter)

Aber nachdem dieser Gesetzentwurf vorgelegt worden war, wurde darüber im französischen Parlament hin und her diskutiert, und schließlich wurde der Entwurf abgelehnt. Warum? Natürlich nicht, weil alle Welt mit solch gewalttätigen Handlungen einverstanden war. Diejenigen, die die Gegenargumente unterstützen, brachten vor: „Wenn ihr einen solchen Gesetzentwurf durchbringt, dann treten zwangsläufig eine Schar von Denunzianten auf den Plan. Das Auftreten von Denunzianten aber wäre für die demokratische Gesellschaft eine riesige Schwächung.“ (Beifall)

Im Ausland ist man der Meinung, der Mensch habe Anspruch auf Wahrung seiner Würde und seiner Privatsphäre, man duldet keine willkürlichen Verdächtigungen. Wenn ich dich hier bei uns im Verdacht habe, du könntest vielleicht etwas Unrechtes im Schilde führen, dann gehe ich hin und erstatte Meldung. Das ist eine ganz normale Sache, und du kannst außerdem damit noch das hohe Ausmaß deiner Wachsamkeit und seines Klassenkampfbewußtseins beweisen.

In Wirklichkeit ist dies Ausdruck einer ganz undemokratischen Gesinnung, da mangelt es an Verständnis für die elementaren Menschenrechte. Zuallererst dürfen Menschen nicht willkürlich einem Verdacht ausgesetzt werden, sie sollen in einer Situation ohne Furcht leben. Aber wir Chinesen leben ständig in Furcht, in einer solchen Gesellschaft kann daher auch kein demokratischer Geist aufkommen. Wenn alle dauernd verdächtigt werden und häufig das Gefühl haben, in eine bedrohliche Situation geraten zu sein, dann kann keine Demokratie entstehen.

Nachdem ich mir diese Theorien angehört hatte, hielt ich auch mein eigenes Denken in dieser Hinsicht für überholt. In China hat man sich daran gewöhnt, daß Denunzianten etwas ganz Gewöhnliches sind. Andere aber finden, daß die Existenz von Denunzianten das demokatische System untergraben kann. Diese Dinge müssen wir allmählich begreifen. Wissenschaftler müssen sich unabhängig von Regierung

und Partei machen

Ich werde noch einige wenige Punkte aufgreifen und dann die Fragen der Studenten beantworten. Wir alle, die wir hier sitzen, sind Intellektuelle und befassen uns mit Wissenschaft. Wissenschaft und Demokratie sind miteinander verbunden. Wissenschaft kann Demokratie nicht ersetzen und auch Demokratie die Wissenschaft nicht. Das auffälligste Charakteristikum der Universität ist, daß sie Wissen produziert. Unsere Aktivitäten erstrecken sich auf Wissenschaft und auf Wissen. In diesen Gebieten verfügen wir über eigene unabhängige Urteilskriterien.

In einigen westlichen Ländern sind die Universitäten unabhängig von der Regierung. Aber natürlich brauchen sie auch Geld. Die Regierung gibt das Geld, und dafür betreibt man die Hochschule. Aber wie man das angeht, welche Inhalte man festlegt, welche wissenschaftlichen Kriterien festgesetzt werden, was für Absolventen man ausbilden will, das alles geschieht völlig nach den eigenen Urteilskriterien der Universität, darüber hat nicht die Regierung zu entscheiden. (Beifall) Selbstverständlich haben im Westen auch sehr viele Universitäten ihre Unabhängigkeit gegenüber den Unternehmern bewahrt.

Das sind alles Merkmale des Universitätssystem, sie veranschaulichen, daß Wissen Unabhängigkeit voraussetzt und einen eigenständigen Wert hat. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, um Demokratie zu garantieren. Nur wenn man Wissen als unabhängig betrachtet, ist man in der Lage, auch in anderer Hinsicht von Regierung und von unwissenden Autoritäten unabhängig zu sein.

Aber in China ist das nicht ganz so. Welches sind die größten Probleme unserer Universitäten bei der Ausbildung? Diejenigen, die wir ausgebildet haben, sind „Werkzeuge“ und keine Menschen, so ist das. (Beifall) Das sind Leute, die keine eigenen unabhängigen Urteilskriterien haben. Andere Leute schätzen dich hoch ein, denn als Werkzeug bist du sehr brauchbar, da können sie unbesorgt sein. Das ist eben kein Standpunkt, der von eigenen Urteilskriterien ausgeht, der sich die Einmischung anderer Leute verbittet.

Chinas Intellektuelle haben in dieser Hinsicht noch keinen vollständigen Sinneswandel vollzogen. Ich zum Beispiel bin Physiker, und normalerweise ist doch ausschlaggebend, wie du in Physikerkreisen berurteilt wirst. Aber unsere chinesischen Verhältnisse sind in dieser Hinsicht oft anders; dein Wert steigt erst erheblich, wenn eine führende Persönlichkeit auch feststellt, du seiest hervorragend. Daran sieht man, daß sich die Menschen immer noch wie „Werkzeuge“ fühlen. Unseren Ideologen müssen wir die Stirn bieten

Im Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es ebenfalls dieses Problem, ich beschäftige mich an sich sehr selten mit allgemeinen sozialen Problemen. Aber selbst aus dem Blickwinkel der Physik muß ich doch oft bestimmten Vorstellungen aus dem Bereich der Philosophie Beachtung schenken. Ich muß da leider feststellen, daß in bestimmten Artikeln aus dem Bereich der Sozialwissenschaften nach wie vor häufig die Worte einer führenden Persönlichkeit zitiert werden, um die eigenen Argumente zu untermauern. Wenn diese Führungspersönlichkeit Experte der Philosophie oder einer sonstigen Wissenschaft wäre, dann könnte das, finde ich, noch für die wissenschaftliche Beweisführung bis zu einem gewissen Grade wertvoll und vorteilhaft sein. Aber wenn der Betreffende überhaupt kein Philosoph ist, und du trotzdem seine Worte zitierst, was hat das dann für einen Wert? Aus wissenschaftlicher Sicht liegt darin nicht der geringste Wert. Das beweist doch nur, daß du dir selbst Mut machen willst. (Beifall) Deshalb sind in solchen Fällen alle Beziehungen auf den Kopf gestellt.

Im Westen dagegen, wenn du beispielsweise über wirtschaftliche Fragen forschst, ganz gleich, was für ein Ergebnis bei deiner Forschung herauskommt, das ist dann eben das Ergebnis, da mischt sich die Regierung nicht ein. Im Gegenteil, die Regierung holt die Meinung solcher Wissenschaftler und Forscher ein. Sie fragt: „Was ist deine Meinung, zeige nur deine Ergebnisse her, vielleicht können wir unsere Politik aufgrund deiner Theorien gestalten.“

Hier ist es jetzt umgekehrt. Die Regierung greift die Worte einiger Professoren und Wissenschaftler lediglich formal auf, um der eigenen Politik den Rücken zu stärken. (Beifall) Damit will ich also erklären, daß Wissen gegenüber der Macht eigenständig ist und nicht von letzterer abhängt. Wenn man Wissen der Macht unterordnet, dann wird es wertlos.

In diesem Punkt hat es in jüngster Zeit in unserem Land doch einige Fortschritte gegeben. Beispielsweise hat man kürzlich in dem Dokument für den Aufbau der geistigen Zivilisation schon nicht mehr den Marxismus bemüht, der die wissenschaftliche Forschung abgeleitet habe. Das soll doch wohl heißen, daß der Marxismus im Bereich der wissenschaftlichen Forschung auch nur eine Theorie unter vielen ist und nicht mehr den Anspruch erhebt, in allen Dingen Leitfunktion zu haben. (Beifall)

In der Tat, der Anspruch solcher Leitfunktion ist von Grund auf falsch gewesen. Wenn man dann noch den ideologisch -philosophischen Leitungsanspruch der Physik vor die Nase setzt, so bleibt es in Wirklichkeit doch bei der Lenkung durch die politische Führung. Die wissenschaftliche Forschung hat eigenständigen Charakter, sie muß über unabhängige Wertmaßstäbe und eine eigenständige Entwicklung verfügen, sie darf sich nicht weiter an unseren früheren Usancen orientieren. Hier ist Chefideologe Hu Qiaomu nicht kompetent

Seit der Befreiung ist alle behördlich-politische Kritik an wissenschaftlichen Dingen hundertprozentig falsch gewesen. Der Eingriff mit solcher Kritik hat jetzt nachgelassen. Aber gibt es sie überhaupt nicht mehr? Es gibt sie immer noch! Ich habe das am eigenen Leib erfahren, nehmt zum Beispiel die Vorfälle des letzten Jahres. Man kann da vielleicht noch behaupten, ich hätte dies oder jenes in politischer Hinsicht pexiert, aber was meine Wissenschaft betrifft, kann ich derartige Kritik absolut nicht dulden. Ich bin einer der stellvertrenenden Chefredakteure der Wissenschaftszeitschrift ('kexue zazhi‘).

Letztes Jahr haben wir einen Artikel veröffentlicht, der die Quantenkosmologie vorstellt, das ist eine neue Wissenschaft. Ob sie richtig oder falsch liegt, da haben wir natürlich unsere eigenen Arbeitskriterien, um das zu überprüfen. Nach theoretischen Gesichtspunkten und aufgrund empirischer Beobachtungen können wir beurteilen, wieweit die Ergebnisse logisch sind. So kann man nicht nur korrigieren, sondern sogar widerlegen. Das ist in der wissenschaftlichen Weiterentwicklung ein normaler Vorgang.

Aber nach der Veröffentlichung dieses Artikels, der die Quantenkosmologie in populärer Form vorstellte, erhielt unsere Redaktion einen Brief. Dieser Biref kam von höchster Stelle und stellte fest, daß der Artikel „objektiver Idealismus“ sei. Selbstverständlich kann man wissenschaftliche Entwicklungen kritisieren, ihnen aber ein philosophisch-ideologisches Etikett anheften, das findet doch heute in Wissenschaftskreisen kein Echo mehr. In der Redaktion der Wissenschaftszeitschrift meinten viele: „Wenn du mit einem wissenschaftlichen Beitrag Kritik übtest, dann könnten wir das noch veröffentlichen. Wenn du aber ideologisch-philosophisch vorgehst, wenn du mit der Leitungsfunktion des Marxismus ankommst, der alles zu lenken habe, und so kritisierst, dann sind wir nicht gewillt, das zu publizieren.“ (Beifall)

Wir sind Wissenschaftler, Physiker und Kosmologen, wir haben unsere eigenen Urteilskriterien. So eine Philosophie, was hat die mit uns zu tun? (Gelächter) Natürlich hatte dieser Brief sehr großes Gewicht, aber obwohl er von unserem damaligen Ober-Chefidologen, dem Genossen Hu Qiaomu, kam, waren wir nicht gewillt, ihn zu beachten. (Stürmischer Beifall) Wenn du etwas von Kosmologie verstehst, freuen wir uns über Kritik, aber wenn nicht, dann bitten wir, dich da herauszuhalten. (Stürmischer Beifall) Erst wenn ein solcher Geist in unseren Wissenschaftskreisen Einzug gehalten hat, läßt sich Demokratie gewährleisten.

Unsere Wissenschaft und Kultur müssen ihre eigene Beurteilung des „Wahren, Guten und Schönen“ haben, sie sollen nicht von der Macht herumgestoßen werden. Nur so kann unser Land die Modernisierung schaffen und eine wahre, statt einer nur scheinbaren Demokratie erreichen.

Das soll für heute genügen. (Stürmischer Beifall)

Aus dem Chinesischen von Carolin Blank, Christa Gescher, Uta Mueller und Sigrid Schmieding