Der Boom sorgt für Luft

■ Auf dem quotenfreien EG-Markt verdienen die BRD-Stahlkonzerne prächtig - derzeit / Überleben nur durch schiere Größe und Diversifizierung

Teil 21: Walter Jakobs

Satte 41 Millionen Tonnen Rohstahl hat die bundesdeutsche Stahlindustrie 1988 produziert und verkauft. Zwar gibt es eine „rückläufige Entwicklung der Auftragseingänge aus dem Inland im ersten Vierteljahr 1989“, aber, so prognostizierte das „Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung“ (RWI) in diesem Monat, „die Rohstahlerzeugung wird 1989 dennoch die Vorjahreshöhe leicht übertreffen“. So richtig erklären kann den gegenwärtigen Boom, der die Stahlkocher überall im Land zu schweißtreibenden Überstunden zwingt, eigentlich niemand. Unstrittig ist, daß die Stahlnachfrage außerordentlich wachstumsempfindlich ist, und daß sie, so das RWI, „überproportinal auf Veränderungen des gesamtwirtschaftlichen Wachstumstempos“ reagiert.

Dabei, so hat das RWI jetzt herausgefunden, spielt der Lageraufbau bei den Stahlverarbeitern eine wesentliche Rolle. 30 Prozent der zusätzlichen Stahlnachfrage gehen auf eine Lageraufstockung bei den Stahlverarbeitern zurück, 70 Prozent auf den Verbrauchsanstieg. Wie stabil diese Entwicklung sein wird, vermag niemand zu sagen. Krupp-Chef Gerhard Cromme, der nach dem erfolgreichen Niederringen der Rheinhausener Stahlkocher im Konzern zur Nummer eins aufgestiegen ist, verglich die Stahlkonjunktur jüngst mit einer „launischen Diva“, die „erst in schlechten Zeiten ihr wahres Gesicht zeigt. Seien wir nüchtern, lassen wir uns jetzt nicht blenden - wir werden wieder mit der traurigen Wirklichkeit konfrontiert.“

Klöckner Chef Herbert Gienow hingegen sieht die Branche schon in einem neuen Gleichgewicht. Das Stahlgeschäft blühe nicht nur wegen der weltweit florierender Wirtschaft, insbesondere der Investitionsgüterindustrie, sondern wegen der weltweit erfolgten Vernichtung von Rohstahlkapazitäten: 40 Millionen Jahrestonnen jeweils in Europa und den USA, 20 Millionen Tonnen in Japan. Deshalb entwickelt sich für Gienow das Stahlgeschäft jetzt wieder entsprechend des Konjunkturverlaufes. Es gebe, so der Klöckner-Chef wörtlich, auch in der Stahlbranche wieder „Aufschwung und Abschwung statt Atemholen und Absturz“.

Was tatsächlich kommt steht dahin, denn die Treffsicherheit der Stahlprognosen steht denen der Elektrizitätswirtschaft in nichts nach: Sie taugen nichts. Auf dem internationalen Stahlkongreß 1974 in München wurde für 1990 noch ein Weltrohstahlverbrauch von eine Milliarde Tonne verkündet. Der tatsächliche Verbrauch lag im letzten Jahr bei etwa 800 Millionen Tonnen. Eine Studie der Commerzbank sprach noch Anfang 1988 davon, daß sich der Produktionsrückgang von 1987 in der deutschen Stahlindustrie auch im Jahr 1988 fortsetzen würde. 1987 war die Produktion um zweieinhalb Prozent auf 36,3 Millionen Tonnen gesunken; tatsächlich stieg die Produktion um mehr als zehn Prozent auf 41 Millionen Tonnen.

Gewinnexplosion

Produktionsanstieg und mehrere Preiserhöhungen brachten der Stahlbranche 1988 glänzende Profite - sogar besser als im Rekordjahr 1974. Der Branchenriese Thyssen hat in seiner ganzen Unternehmensgeschichte noch nie zuvor soviel Geld mit Stahl verdient. 1,2 Milliarden Mark Gewinn vor Steuern fuhren die Beschäftigten der Thyssen Stahl AG ein. Dafür gab es pro Nase einen Sonderbonus von 450 Mark. Krupp und Hoesch zahlten ihren Leuten 400 Mark extra. Die Krupp-Stahl AG erzielte aus der normalen Geschäftstätigkeit 1988 einen Überschuß von 485 Millionen Mark, den das Unternehmen zur Reduzierung des Verlustvortrages und zur Deckung der Stillegungskosten für Rheinhausen nutzte. Die Hoesch Stahl AG schloß 1988 mit einem Plus von 300 Millionen Mark ab.

Subventionskarussel

fast gestoppt

Für die Staatskasse bringen die fetten Gewinne der Stahlkonzerne eine unerwartete Entlastung. Einen Teil der erhaltenen Subventionen müssen die Unternehmen jetzt zurückzahlen. Insgesamt hat die deutsche Stahlindustrie nach Angaben der Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl etwa sieben Milliarden Mark Steuergelder kassiert. Davon gingen mehr als die Hälfte an den „Sonderfall“ Saarstahl. Der Rest der Branche muß von der erhaltenen Staatsknete etwa 1,65 Milliarden Mark, die sogenannten Strukturbeihilfe, zurückzahlen. Die etwa gleichgroße Summen an Investitionsbeihilfen sind dagegen Geschenke der öffentlichen Hand.

Thyssen hat inzwischen seine Schuld in Höhe von 188 Millionen Mark beglichen. Der Bitte von Hoesch-Chef Rohwedder an die Politiker in Bonn und Düsseldorf, die Rückzahlung den Stahlkonzernen zu erlassen oder es doch zumindestens zuzulassen, die Gelder in einen neuen Revier -Fond einzubringen, wurde nicht entsprochen. Bonn und Düsseldorf zeigten dem Dortmunder Stahl-Boß zunächst gemeinsam die kalte Schulter. Zwar hat die Rau-Regierung inzwischen signalisiert, auf ihren Drittelanteil verzichten zu wollen, aber das Bonner Fianzministerium bleibt hart. Nun muß Hoesch 300 und die Krupp Stahl AG sogar 422 Millionen Mark rausrücken. Das findet Rohwedder gemein: Er sieht darin einen „eklatanten Wettbewerbsnachteil gegenüber den europäischen Wettbewerbern“, die wesentlich mehr kassiert hätten und nichts zurückzahlen müßten.

Die Klagen über die Wettbewerbsverzerrungen sind in der BRD so alt wie die Stahlkrise. Jahrelang fochten die deutschen Stahlindustriellen für die Beibehaltung des EG-Quotensystem, weil sie ohne diesen Schutz den Kampf mit der subventierten Auslandkonkurrenz nicht glaubten bestehen zu können. Nach Darstellung der Wirtschaftsvereinigung Stahl hat die französische Stahlindustrie insgesamt 20 Milliarden Mark Steuergelder kassiert, die in England 27 Milliarden Mark und die italienische Konkurrenz etwa 22,5 Milliarden Mark. Während in Frankreich und England inzwischen nichts mehr zugeschossen wird, hat der Brüsseler Ministerrat mit Zustimmung der BRD für die staatliche italienische Finsider -Gruppe Subventionen in Höhe von 7,5 Milliarden genehmigt allerdings nur unter der Bedingung, daß das Stahlwerk Bagnoli bei Neapel zumindestens teilweise stillgelegt wird. Weil das nicht geschehen ist, dürfen die Gelder nach einem in dieser Woche gefaßten Beschluß der Brüsseler Kommission nicht zur Auszahlung kommen. (Mit der Lage in der italienischen Stahlindustrie wird sich die nächste Folge der Serie beschäftigen.)

Fusionen und Diversifikationen

Seit einem Jahr ist der europäische Stahlmarkt quotenfrei. Es herrscht freie Konkurrenz, und nicht nur die deutschen Stahlkonzerne verdienen prächtig. Glaubt man R. Vondran, dem Präsidenten der Wirtschaftsvereinigung Eisen und Stahl, dann haben die fünf großen Konkurrenten im europäischen Ausland, die 1987 noch fünf Milliarden Mark Verlust machten, 1988 einen Gewinn von 2,5 Milliarden Mark erzielt.

Mit Blick auf diese europäische Konkurrenz - und den deutschen Branchenriesen Thyssen - sind die Fusionspläne bei Krupp und Salzgitter entstanden. Irgendwann wird der Stahlboom abebben, werden die Preise fallen. Die Aussichten, im dann mit Sicherheit neu aufflammenden Überlebenskampf zu bestehen, wachsen mit der Größe und dem Diversifizierungsgrad der beteiligten Konzerne. Krupp würde in den neuen Mammutkonzern 15 Milliarden Mark Jahresumsatz und 63.000 Beschäftigte einbringen, Salzgitter 9,5 Milliarden und 38.000 Leute. Die Stahlseite dieses Mammutkonzerns verfügte dann - wie Thyssen auch - über zwei Warmbreitbandstraßen, dem eigentlichen Herzstück jedes Stahlkonzerns. Deutsche Wettbewerber wie Klöckner und Hoesch mit je einer Straße gerieten ins Hintertreffen.

Gute Chancen, auch in schlechteren Konjunkturzeiten auf sich allein gestellt überleben zu können, werden allein Hoesch eingeräumt. Durch gezielte Zukäufe im Elektronik- und Anlagenbereich hat Hoesch-Chef Rohwedder die Basis seines Konzerns geschickt verbreitert. Auch künftig will der in Wirtschaftskreisen viel gelobte Rohwedder die noch herrschende Stahldominanz im Konzern vermindern.

Im Vergleich zu Hoesch gehören Salzgitter und Krupp eher zu den kränkelnden Unternehmen der Branche. Von einer Fusion erwarten die Beteiligten auch, daß damit der Anlagen - und Elektronikbereich, der beispielsweise bei Krupp viel zu klein ist, um auf Dauer überleben zu können, auf gesündere Füße gestellt wird. Kein Wunder, daß selbst die kämpferischen Rheinhausener Krupp-Betriebsräte diese Fusion nicht rundweg ablehnen mögen. „Die große Chance, die privatkapitalistische Neuordnung der Stahlindustrie zu stoppen, ist beim Kampf um Rheinhausen vertan worden“, sagt Theo Steegmann, der 2.Betriebsratsvorsitzende von Krupp -Rheinhausen - auch mit Blick auf die gesamte IG Metall und deren mangelnde Unterstützung der Rheinhausener Stahlkocher. Daß die Gewerkschaft jetzt noch die Kraft fände, eine für alle Stahlarbeiter gleich akzeptable Lösung durchzusetzen, glaubt bei den betrieblichen Aktivisten niemand mehr.

Neue Techniken

Möglicherweise kommen die größten Umwälzungen in der Stahlindustrie in den nächsten Jahren im Schlepptau technischer Innovationen daher, die die gesamte Flachstahlproduktion revolutionieren werden. Das bisherige Prinzip, zunächst dicke Stahlblöcke zu produzieren, die sogenannten Brammen, die dann in bis zu 400 Meter langen Walzstraßen zu Blechen verarbeitet werden, dürfte in absehbarer Zukunft durch das sogenannte Bandgießverfahren abgelöst werden. Fast alle Konzerne basteln an Pilotanlagen. Das neue Verfahren erlaubt eine radikale Verkürzung der Produktionslinien, soll bessere Stahlqualitäten liefern und spart dazu noch bis zu 50 Prozent der jetzt eingesetzten Energie. Mit Hochdruck arbeiten Anlagenbauer in der ganzen Welt an dem neuen Verfahren, um es schnell an die Stahlkonzerne verkaufen zu können - und zwar möglichst an alle. Zu Übernahme-Kandidaten können dann schnell die Konzerne werden, die die meiste Zeit dazu brauchen, Teile der Belegschaft zu feuern. Welche Arbeitsplatzeffekte mit dieser Technik im einzelnen verbunden sind, steht dahin. Nur eins ist sicher: Der Stahl wird künftig mit weniger Leuten produziert.