100 Tage Berliner (R)Evolution

■ Von hochfliegenden Plänen voll in den Sachzwang

Innerhalb der Koalition ist nach der anfänglichen Euphorie erwartungsgemäß die erste große Ernüchterung eingetreten. Die Atmosphäre zwischen Rot und Grün hat sich drastisch verschlechtert, die Koalition versinkt in umstrittenen Sachzwangentscheidungen, ohne bislang ein identitätsstiftendes Projekt in Gang gebracht zu haben. Überraschend gut hält sich dagegen Koalitionsvorsteher Walter Momper. Als Regierender erfreut er sich wachsender Beliebtheit, was die meisten seiner SenatorInnen nicht von sich behaupten können.

Die Sekretärin im Vorzimmer des Regierenden Bürgermeisters verdreht die Augen. „Schon wieder will einer mit ihm reden, wegen des Polenmarkts“, meint sie kopfschüttelnd und weiter, „selbst schuld, er hat ja immer gesagt, er ist für alle Bürger persönlich zu sprechen.“ Doch Walter Momper ist nicht da, und der Frager wird zum Bürgerbüro weiterverbunden. Routine.

Berlins rot-grünen Regierenden Bürgermeister hat in den ersten 100 Tagen das Alltagsgeschäft eingeholt. Das Amtszimmer - pardon, das darf man ja auf seine Anweisung hin nicht mehr sagen, also der Raum 1107, wie das pompöse Büro jetzt heißt - ist für die BerlinerInnen so unzugänglich wie eh und je. In die Regierungsgeschäfte ist nach den Turbulenzen der ersten Wochen, als der neue Senat nach kurzem Zögern die besetzten Häuser räumen ließ, fleißige Ruhe eingekehrt. Die „ernsten Koalitionskrisen“ finden weitgehend in den Medien statt. Im Senat und zwischen SPD und AL wird sich bloß heftig gestritten. Nach 100 Tagen sind Rot und Grün zwar nicht besonders gut aufeinander zu sprechen, doch steht die Koalition auf beiden Seiten nicht in Frage.

Fehler bei der

Akzeptanzsuche

Und die Berlinerinnen und Berliner? Wer anfänglich dachte, es geht alles so weiter wie bisher, wurde symbolisch aufgeschreckt. Ein Verkehrszeichen auf der „Avus“, dem Stück Autobahn, auf dem die vom Transit geplagten Besucher, nachdem sie die Stadtgrenze passiert haben, das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrücken durften, zeigte über Nacht Tempo 100 an. Die CDU-Opposition heulte auf, sprach vom „Schikanesenat“, Tausende Autofahrer der Gattung „Opel -Manta“ veranstalteten hupend jeden Abend ein „Protestfahren“ auf den jetzt auf Tempo 100 eingschränkten ganzen sechs Kilometern Autobahn. Eine Autodemo vom Süden der Stadt bis zum Reichstag verstopfte sämtliche Straßen. Die Gelegenheit für Verkehrssenator Wagner (SPD), die im Koalitionspapier festgelegte „neue Verkehrspolitik“ öffentlich zu vertreten und zu verteidigen. Doch nichts dergleichen geschah. Wagner war abgetaucht. Zum Protest der Bürgerinitiative „Tempo 100“ fand er nur die Worte, er mache Politik und nicht eine BI - eine Bemerkung, die, so sollte man meinen, die Alternative Liste in Alarmbereitschaft versetzten müßte. Doch nichts geschah, denn die AL ist ja auch für Tempo 100. Der Zweck heiligt die Mittel. Die so nötige Debatte über Verkehrspolitik führte an diesem Punkt niemand. Nicht die SPD, nicht die AL und schon gar nicht die Lobbyisten der einen und anderen Seite.

Der Fall mag exemplarisch stehen. Auch für die Unfähigkeit, Politik gut zu verkaufen - oder, um im rot-grünen Jargon zu bleiben, „transparenter“ zu machen. Gleich nach der Wahl am 29.Januar, als die Stimmzettel eine rechnerische Mehrheit für Rot-Grün signalisierten, appellierte Momper an SPD und AL, daraus eine „gesellschaftliche Akzeptanz“ zu schaffen. Doch davon ist die Stadt noch weit entfernt. Sicher gibt es diese Akzeptanz für Rot oder auch die für Grün. Doch das, was die Verbindung der beiden ausmachen könnte, ist noch kaum sichtbar geworden. Das liegt auch daran, daß es der Senat bislang nicht geschafft hat, zu einem seiner Projekte gemeinsam zu stehen, sie mit einem Paukenschlag an die Öffentlichkeit zu bringen. Selbst als Verkehrssenator Wagner die „Umweltkarte“ im Öffentlichen Nahverkehr, eines der Herzstücke des Koalitionsvertrages, bekanntgab, meckerte die Alternative Liste, weil ihr das Gesamtpaket verkehrspolitischer Maßnahmen zu klein war.

Wenig Glanzlichter

bei den SenatorInnen

Werbung ist nicht jedermanns und jederfrau Stärke, doch sie täte not. Denn viel Positives ist es nicht, was die Koalition bislang vorweisen kann. Die bissigen Bemerkungen über die Besetzung der SenatorInnenposten sind inzwischen unüberhörbar geworden - in beiden Parteien. Gerade die Kultur, unter CDU-Senator Hassemer zu zwar zweifelhaftem, aber immerhin internationalem Rang erhoben und ein Eckpfeiler der konservativen Politik, hat bislang mit Anke Martiny (SPD) keine neue Gestalt bekommen. Im Gegenteil. Frau Martiny gibt bei allen möglichen Gelegenheiten zu, daß sie das, was ihr Vorgänger gemacht hat, gar nicht so schlecht findet. Auf eine programmatische Rede haben die Kulturinteressierten der Stadt bislang umsonst gewartet. Ansonsten ist die Dame viel auf Reisen und steht in der Rangliste der Kritik ganz oben. In der AL ist man vor allem sauer auf sie, weil man sich eine streitbarere Mitkämpferin gegen das „Geschenk“ des Bundeskanzlers, das Deutsche Historische Museum, erhofft hatte. Ungeteilter Zustimmung in der Koalition erfreut sich dagegen der Innensenator. Erich Pätzold (SPD) hat sich mit der „Deeskalationsstrategie“ beim Polizeieinsatz am 1.Mai zwar viele Feinde in der Polizei gemacht - auch Parteiaustritte soll es gegeben haben -, doch dafür hat er die Herzen der Alternativen im Sturm erobert. Die Diskussion um den 1.Mai hat aber auch gezeigt, wieviel Widerstand in den eingefahrenen Berliner Verwaltungen gegen strukturelle Veränderungen besteht. Die vom Innensenator gewünschte und vom Senat so beschlossene Umstrukturierung in der Führungsriege der Polizei wurde jetzt erstmal von den Alliierten gestoppt. Die Justizsenatorin Jutta Limbach (SPD), die sich bereits während des Hungerstreiks der RAF -Gefangenen als unsichere Verhandlerin erwiesen hat, kann sich auch in ihrer Verwaltung nicht durchsetzen. Die im Koalitionsvertrag beschlossene Auflösung der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft liegt noch in weiter Ferne. Punkte sammeln konnte allerdings die von der AL nominierte Schulsenatorin - zumindest bei der Lehrerlobby der Stadt. Sibylle Volkholz setzte die im letzten Jahr beschlossene Arbeitszeitverkürzung voll in neue Stellen um. Doch die einzige, die wirklich öffentlich präsent ist und mit Power Politik macht, ist die AL-Umweltsenatorin Michaele Schreyer. Sie sucht und findet den Konflikt mit den anderen Verwaltungen, streitet sich mit dem Bausenator über Grünflächen und das Historische Museum, läßt in einer Großrazzia Firmen durchsuchen, die Lösungsmittel verarbeiten und erwägt ernsthaft, den Autoverkehr auf der am Sonntag hoffnungslos zugeparketen und verstopften Havelchaussee zu verbieten.

Der Regierende Bürgermeister macht derweil Berlin- und Deutschlandpolitik. Auch wenn die Opposition laut schreit, die Stadt verkomme unter Momper zur politischen Provinz, wird es deshalb nicht richtiger. So schnell hat es noch kein Berliner Bürgermeister geschafft, von Honecker empfangen zu werden. Und wenn auch das, was er bei der Rückkehr von Pankow in seinem Gepäck hatte, nicht allein sein Verdienst ist, so darf er sich doch den symbolischen Erfolg ans Revers heften. Walter Momper hat etwas geschafft, was ihm keiner zugetraut hat: Er ist zum Staatsmann geworden - und ist Kreuzberger geblieben. Zumindest seine Akzeptanz steht in der Stadt nicht in Frage.

Die Basis der AL meutert

Enttäuschung über das rot-grüne Projekt macht sich zwischenzeitlich bei der Basis der Alternativen Liste breit. Sie mußten in diesen ersten 100 Tagen mitansehen, wie der rot-grüne Senat all das, wogegen sie jahrelang in der Opposition angekämpft hat, in die Praxis umsetzt. Diese im Jargon inzwischen „Altlasten“ genannten Projekte waren aber für viele der Parteiaktiven der Grund, warum sie die Koalition wollten. Die Hoffnungen, zum Beispiel den Bau des Großklinikums „Rudolf-Virchow“ verhindern zu können oder einen weiteren Transitübergang abzuwenden, der einen Teil des wenigen Grüns in der Stadt zerstört, wurden schwer enttäuscht. All diese „Ein-Punkt-Koalitionäre“ mußten bittere Niederlagen hinnehmen. Nahezu alles, was im Koalitionspapier als „Prüfauftrag“ aufgenommen worden war, wurde im Sinne der alten CDU-Planung entschieden. Größtenteils waren es die „Sachzwänge“, mit der die Entscheidungen gerechtfertigt wurden: Bereits weit fortgeschrittene Planung, schon verbaute Gelder, bestehende Verträge. Doch davon läßt sich ein eingefleischter Oppositioneller nicht „täuschen“, und so macht sich die Stimmung breit, die AL lasse sich von der SPD „über den Tisch ziehen“. Eine neue Kultur kommt innerhalb der Partei in Mode: die Funktionärsbeschimpfung. Die Basis gebärdet sich weiter linksradikal. Davon bleibt selbst der sonst so unumstrittene „Erfinder“ der Koalition, Christian Ströbele, nicht verschont. Doch der gibt die Kritik zurück. „Alternativen“ müßte die Partei anbieten, nicht nur dagegen sein und meckern, fordert er und legt damit den Finger auf die Wunde. Die Alternative Liste muß das Regieren, die Umsetzung einer konzeptionellen Stadtpolitik, noch lernen.

Für die SPD ist das öffentliche Meckern zwar ärgerlich außerdem sind die Genossen sauer über die vielen komplizierten Entscheidungsprozesse in der AL, auf die sie Rücksicht nehmen müssen -, doch daß die Alternativen so wenig mit eigenen Konzepten präsent sind, kommt ihnen sehr zu paß. Denn so bleibt ihnen die politische Bühne - in der Regierung und in der Stadt. Die Sozialdemokraten sind präsent. Sie gebärden sich „zum Anfassen“ auf den Straßen der Stadt. Die AL bleibt - noch - im Untergrund.

Brigitte Fehrle