Binsenweisheit-betr.: "Entkoppelt von der Wirklichkeit", taz vom 2.6.89

betr.: „Entkoppelt von der Wirklichkeit“, taz vom 2.6.89

Es ist eine prinzipielle Frage angesprochen. Ist der „reformerische Ansatz“ der „erfolgversprechendere Weg der Gesellschaftsveränderung“ und ist „das klassische revolutionäre Projekt (...) vielleicht auf der gesamten nördlichen Hemisphäre auf sehr lange Sicht, wenn nicht für immer gestorben?“ (Alle Zitate mit einer Ausnahme von Gerd Rosenkranz)

Für Gerd ist dies keine Frage mehr, sondern eine Binsenweisheit für alle außerhalb des Knastes. Er trägt darin ein Selbstbewußtsein zur Schau, daß für ihn Vertreter von politischen Positionen, die diese Frage entgegengesetzt zu ihm beantworten, nur noch „bemitleidenswert“ sind. Diese Sicherheit, die gesellschaftlichen Prozesse, wenn nicht der ganzen Welt, so doch wenigstens „der nördlichen Hemisphäre“ richtig einzuschätzen, ist bei ihm so stark, daß Vertreter des „revolutionären Projekts“ nur noch „unpolitisch“ sind. Er beweist nichts.

Er behauptet einfach, daß sich die grundlegenden Widersprüche, die der Imperialismus produziert, „erfolgversprechender“ durch Reformen lösen können. Er behauptet einfach, daß sich die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus in den letzten 100 Jahren nicht zugespitzt haben und weiter zuspitzen, somit politisch auch der Faschismus kein Bestandteil des Imperialismus mehr ist.

Für ihn ist es „das alte Lied vom faschistischen Staat“, welches ihn gelangweilt nur noch zu einem müden Lächeln reizt.

„(...) der Kern der (...) neuen sozialen Bewegungen“ ist „in den Parlamenten und zunehmend (...) in der Exekutive integriert oder (...) vertreten, (...) der Sozialismus“ erlebt „seinen größten Einbruch seit Lenin“, „die Bedrohung durch einen alles vernichtenden Krieg“ nimmt „vor allem im Bewußtsein der Menschen, aber auch in der Realität tendenziell“ ab. Dadurch werden für Gerd „Revolutionsparolen“ „unpolitisch“.

Hier bläst sich der bürgerliche Reformismus auf, hält sich für sehr stark, zeigt sich selbstbewußt als geschichtlicher Sieger einer ganzen Epoche. Wissenschaftliche Analyse der realen gesellschaftlichen Prozesse zeigt sich hier nicht, nur blinder Glaube an das Anbrechen einer goldenen Zeit durch den erfolgversprechenden Weg der Gesellschaftsveränderung des reformerischen Ansatzes.

Gerd erkennt „Realitäten“ an, die so hoch in rosaroten Wolken liegen, nicht nur innerhalb der Mauern, sondern auch außerhalb, daß sie Menschen wie mich trotz seines Anspruches nicht ansprechen. Dieses ganze Verniedlichen und Beschönigen der immer brutaler werdenden sozialen Gegensätze, gerade auch in der „nördlichen Hemisphäre“, führt nur zu einer Konsequenz - zum Paktieren mit diesem mörderischen System.

Was wirklich ansteht, ist etwas anderes: Die Entwicklung „einer wirklich verändernden Politik“ (Eva Haule), die mit den reformistischen Illusionen über diese Gesellschaft bricht. Es geht nicht um Dogmen, reine Lehre und Parolen. Die Geschichte bewies es mehrfach: Die Hegemonie des Reformismus im fortschrittlichen Lager war für die gesellschaftlichen Katastrophen in Deutschland 1914, 1918, 1933 und in der BRD nach 1945 mitverantwortlich.

Der Imperialismus konzentriert heute erneut seine Kräfte, und es wäre fast schon verbrecherische Gedanken- und Geschichtslosigkeit, die Illusion zu verbreiten, er hätte den Kampf um soziale Revanche aufgegeben.

Nur eine Politik, die um die menschen- und potentiell menschheitsvernichtenden und naturvernichtenden Folgen des kapitalistischen Eigentums weiß, von ihnen ausgeht, und nur eine Politik, die für hier wenigstens gedanklich die Tür zu der Möglichkeit aufstößt, eine Gesellschaft zu organisieren, die sich nicht in den tödlichen Zangen des kapitalistischen Privateigentums befindet, ist Realpolitik im eigentlichen Sinne. Sie schreckt vor der Wirklichkeit nicht zurück.

Thorsten Schramm, Berlin 19