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Lesben und Schwule feierten den Beginn ihrer Bewegung  ■ K O M M E N T A R E

Vor zwanzig Jahren wehrten Lesben und Schwule sich militant gegen eine Polizeirazzia in der New Yorker Kneipe Stonewall und gegen die Maffiabesitzer schwuler Sub Lokale. Und vor zwanzig Jahren - im September 1969 - wurde der Homoparagraph 175 zum ersten Mal reformiert, homosexuelle „Handlungen“ unter erwachsenen Männern sollten fortan nicht mehr strafbar sein. Der erste Termin wird seit Jahren weltweit gefeiert als Beginn der Lesben- und Schwulenbewegung, die spontane Straßenschlacht der 2000 mit Steinen, Mülltonnen und einer Parkuhr gegen Polizei und Kneipiers in der Christopher Street ist inzwischen eine schöne Legende.

Der zweite Termin hatte in der Bundesrepublik vor allem als öffentliche Reaktion auf Homosexuelle eine Strategie des Schweigens zur Folge. Hatte im Faschismus, wenn auch nur mit einseitigen Absichten, eine Politisierung weiter Bereiche des individuellen und gesellschaftlichen Lebens stattgefunden, wurde diese mit seinem Ende bis auf einen sehr eng gefaßten Politikbegriff rückgängig gemacht. Für Homosexuelle bedeutete dies, daß sie im Faschismus insofern noch Beachtung fanden, als ausdrücklich ihre Eliminierung aus der neu zu errichtenden Weltordnung vorgesehen war und praktiziert wurde.

In der „entnazifizierten“ Republik mit der ersten Reform des Paragraphen wurden homosexuelle „Handlungen“ toleriert, allerdings um den Preis der Diskretion. Homosexualität, offensichtlich nicht auszurotten, wurde unter den Mantel des Schweigens gesteckt.

Erst zwanzig Jahre nach dem fulminanten schwulen Aufbegehren beim großen Bruder in Übersee tauchen Lesben und Schwule heute wieder in der politischen Diskussion auf. Waren bislang die zaghaften Ansätze der Einmischung in den letzten Jahren - für die vollständige Abschaffung des Paragraphen 175 und für eine Wiedergutmachung schwuler KZ -Opfer - von den politischen Parteien peinlichst mißachtet worden, so läßt der Feiertag vom Wochenende neue Töne hören. Eine lesbische Senatorin äußert sich in Berlin öffentlich zur Einrichtung eines „Referats für gleichgeschlechtliche Lebensweisen“, und ihr Chef, der Regierende, läßt am gleichen Abend über den öffentlich-rechtlichen SFB in moderaten Tönen seine geringen Berührungsängste zur Minderheit erkennen; der Berliner Senat selbst hält zwei offen schwule Abgeordnete aus, und Grüne und SPD führen derweil schwule Fachleute in ihren Reihen.

Die Lesben- und Schwulenbewegung - ohne sie wären diese kleinen Erfolge nicht möglich geworden - kann sich auf die zarte Schulter klopfen. Dennoch sind Einschränkungen angebracht, nicht der Wind hat sich gedreht, nur ein paar Mutige mehr sitzen an bedeutenderer Stelle. Und dahin gibt es nichts zu delegieren. Die paar wenigen können lediglich Kleinigkeiten auf einen Weg schicken, der furchtbar lang sein kann. Den Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben, jenseits einer tolerablen Heterosexualisierung, müssen die einzelnen im Alltäglichen immer wieder durchsetzen. Die erste scheue Umarmung des Staats kann leicht erdrücken, und die neue Strategie der schrittweisen Integration kann sich ganz nach politischer Wetterlage - leicht in ihr Gegenteil verkehren.

Elmar Kraushaar