Die letzte Chance für Ungarns KP

■ Reformermehrheit im neuen Parteipräsidium / Generalsekretär Grosz hat an Einfluß verloren

Polen ist für Ungarns Reformkommunisten Beispiel, aber auch Warnung. Den runden Tisch haben sie jetzt auch. Doch bei Strafe des Untergangs müssen sie vermeiden, eine ähnliche Wahlniederlage zu erleiden wie kürzlich die polnische KP. Die beiden Staatsminister Pozsgay und Nyers haben jetzt versucht, die Weichen zu stellen - für eine Demokratisierung der Partei. Im Parteipräsidium haben sie jetzt das Sagen, aber die nächste Hürde wartet: der Parteitag im Herbst. (Kommentar Seite 8)

Die Krisensitzung des Zentralkomitees der Ungarischen Kommunistischen Partei, der USAP, war noch in vollem Gange, da trat Parteisprecher Lazlo Major am Samstag nachmittag schon vor die Presse. Und er hatte Überraschendes zu melden: Die Spitze der Partei werde umgebildet. Bis zum Parteitag, der am 7.Oktober beginnt, wird ein aus vier Politbüromitgliedern bestehendes Präsidium mit der Leitung der Partei betraut. Bis zum Parteitag werden die Reformer Imre Pozsgay, Reszö Nyers, Ministerpräsident Miklos Nemeth und der bisherige Generalsekretär Karoly Grosz die Parteigeschicke gemeinsam bestimmen.

Das Politbüro wurde von 9 auf 21 Mitglieder aufgestockt. Nun gehören ihm mehrheitlich Reformer an. Als der Parteisprecher auch noch bekanntgab, daß Wirtschaftsminister Reszö Nyers den Parteivorsitz übernimmt, war klar, daß Generalsekretär Grosz an Einfluß eingebüßt und der Reformerflügel an Macht gewonnen hatte. Zwar ist der Parteivorsitz seit Mai 1988 nur noch ein Ehrenposten, der für den damals von der Macht verdrängten langjährigen Parteichef Janos Kadar eigens geschaffen wurde. Doch Nyers will für den Posten Kompetenzen zurückgewinnen. In einem Interview mit der unabhängigen Zeitung 'Mai Naip‘ hatte Nyers schon am Freitag angedeutet, daß er - nach dem endgültigen Rückzug Kadars vor vier Wochen - seine künftige Rolle als Parteichef nicht mehr nur als symbolische interpretiert.

Auch in anderen Teilen des Parteiapparats sind die Reformer nun am Drücker. Das Zentralkomitee wählte mit Jenö Kovacs und dem Budapester Parteisekretär Janos Barabas zwei aus ihren Reihen zu neuen ZK-Sekretären. Dagegen mußte der zu den Konservativen zählende Janos Berecz, der schon im April seinen Sitz im Politbüro verloren hatte, als Parteisekretär gehen.

Karoly Grosz selbst ist noch einmal davongekommen. Als „Mann der Mitte“ ist sein politischer Spielraum jedoch stark beschnitten worden. Schon vor der ZK-Konferenz war klar, daß er nicht einmal zur Verhandlungsdelegation der USAP bei den Gesprächen am runden Tisch mit der Opposition gehören wird. Andererseits ist es den Reformern nicht gelungen, Grosz endgültig zu stürzen. Obwohl 98 der 108 Mitglieder des Zentralkomitees das Wort ergriffen, sprachen sich nur vier für die sofortige Absetzung von Grosz aus - wohl um die Partei nicht allzusehr zu erschüttern.

Noch am Donnerstag hatte sogar Parlamentspräsident Matyas Szürös die Ablösung des Generalsekretärs gefordert. Die Partei könne, sagte er, nur etwas für die nationale Eintracht tun, wenn „der Reformflügel eindeutig die Oberhand gewinnt, wenn die Schlüsselpositionen von markanten, populären und intelligenten Führern des Reformflügels besetzt werden“.

Kaum eine Woche nach den Feierlichkeiten für Imre Nagy, den hingerichteten Führer der ungarischen Reformbewegung von 1956, mußte das ZK über die weitere Strategie der Kommunisten entscheiden. Keine leichte Aufgabe, denn die Partei steht in der Öffentlichkeit viel schlechter da, als es selbst die Pessimisten in den eigenen Reihen noch vor einem Jahr für möglich hielten. Auch wenn sich die Partei zum „Initiator eines Mehrparteiensystems“ erklärt hat - die politische Initiative ist ihr nach Ansicht vieler Oppositioneller längst entglitten. Doch gerade das wollen die Reformer wieder ändern. Wie stellen sich die ungarischen Kommunisten ihre Politik bis zu den Wahlen 1990 vor? Mit welchem Programm sollen sie antreten, um bei den Wahlen gegen die Oppositionsparteien zu bestehen? Für die Refomer ist die Antwort jetzt schon klar: mit einem eindeutig demokratischen Programm.

Der „Springpunkt“ 1956

Für ihre Glaubwürdigkeit haben die Reformer um Pozsgay in den letzten Monaten einiges getan. Wer hätte denn vor einem Jahr ernsthaft geglaubt, daß das Tabu 1956, der „Springpunkt des Regimes“, die Geschichte des Aufstands, öffentlich diskutiert und die damaligen Opfer posthum offiziell geehrt werden würden?

Seit der bewegenden Beerdigung Imre Nagys und seiner Mitstreiter am vorletzten Wochenende sind die meisten Oppositionellen nun davon überzeugt, daß es den Reformern der Partei ernst ist mit der nationalen Versöhnung. Schon im Februar hatte Pozsgay die Ungarn aufhorchen lassen, als er 1956 als einen „Volksaufstand“ bezeichnete und die alte Diktion „Konterrevolution“ aus dem Sprachschatz der Regierenden strich. Das war ein politischer Akt, der das ganze Regime erschüttern mußte - legitimierte es sich doch selbst immer wieder damit, es habe damals der „Konterrevolution“ Einhalt geboten.

Mit der Neudefinition von 1956, die dann vom ZK mit Abstrichen gebilligt wurde, war der alte Parteichef Janos Kadar und mit ihm der gesamte konservative Flügel desavouiert und das Einparteiensystem in Frage gestellt.

Die Öffnung hin zu einem Mehrparteiensystem, das mit diesem Schritt möglich wurde, steht nun an. Mit dem Versprechen, nun schon 1990 freie Wahlen abzuhalten, und mit der Aufnahme der Verhandlungen am runden Tisch haben die Reformer die Weichen auf Demokratisierung gestellt. Noch im Frühjahr dieses Jahres mißtrauten die meisten Oppositionellen dieser Politik. Doch als die Reformer im April auch noch das lange umstrittene und umkämpfte Staudammprojekt in Nagymaros fallen ließen, dabei sogar zu Schadensersatzzahlungen an Österreich bereit waren und der Schelte aus der CSSR widerstanden, die an ihrem Donaukraftwerk festhalten will, war der Bann gebrochen.

Die Opposition diskutierte dann im Mai die neue Situation. Das Resultat war Zustimmung zu Verhandlungen mit der Regierung.

Mit der Entscheidung des ZKs vom Wochenende werden die Reformer wohl auch nicht mehr von der Spaltung der Partei sprechen müssen. In einem Interview mit dem „Feindsender Radio Freies Europa“ hatte noch im Mai Pozsgay mit der Gründung einer neuen Linkspartei in Ungarn gedroht. Diesen Hammer wird das gerade gekürte Präsidiumsmitglied wohl in Zukunft nicht mehr nötig haben.

Erich Rathfelder